Medizinische Versorgung Friedlinger Hausarzt ist in seiner „Kiez-Praxis“ auch Sozialarbeiter

Marco Fraune
Mario Steffens, 54, hat vor zehn Jahren die Friedlinger Hausarztpraxis übernommen. Foto: Marco Fraune

Mario Steffens betreibt seit zehn Jahren in Friedlingen eine Hausarztpraxis. Dort steht er täglich vor besonderen Herausforderungen. Wie viel Freude ihm seine Arbeit macht?

Wie würden Sie sich beschreiben? Sind Sie ein Arzt aus Leidenschaft, ein klassischer Hausarzt oder ein leidensfähiger Arzt?

Ich bin Arzt geworden aus Überzeugung. Der Weg dahin resultierte aus meinem Zivildienst in einer Klinik. Dort musste ich unter anderem Patienten im Sterbeprozess begleiten. Damit der Mensch in einer ruhigen Situation sterben konnte, wurde er aus dem Mehrbettzimmer in das Patientenbad geschoben. Ich saß dort dann neben dem sterbenden Patienten und starrte auf den vor mir hängenden Duschvorhang. Würdeloser ging es meines Erachtens eigentlich nicht. Da war für mich klar: Das möchte ich ändern. Das war mit einer der Gründe, weshalb ich über das Abendgymnasium schließlich Medizin studierte.

Vor zehn Jahren haben Sie Ihre Friedlinger Arztpraxis von Dr. Hans-Peter Volkmer übernommen. Mit welcher Erwartungshaltung sind Sie gestartet?

Bestmögliche Arbeit zu machen, war mein Bestreben. Mir war es dabei immer wichtig, einen guten Draht zum Patienten zu haben.

Im Gesundheitsbereich wird auf Bundesebene „herumgedoktert“. Wie spürt das ein Mediziner an der Basis?

Dass es immer wieder Reformen in der Abrechnung gibt, mit dem muss man denke ich leben. Das Problem ist eher die überbordende Bürokratie im Praxisalltag sowie ein deutdeutlich gesteigertes Anspruchsdenken bei den Patienten, das besonders seit Corona nochmals massiv zugenommen hat.

Liegen Probleme für Sie also eher bei den Patienten und nicht im System begründet?

Ich muss dazu einordnen, dass ich keine klassische Praxis habe. Meine ist eher eine „Kiez-Praxis“. Sie ist maximal bunt mit internationalem Patientenklientel. Das ist schön, bringt aber auch Probleme mit sich, da Friedlingen ein sozialer Brennpunkt ist. Häufig sehe ich mich in der Doppelrolle als Hausarzt und Sozialarbeiter. Manchmal braucht es klare Ansagen. Denn es gibt neben Streitereien im Wartezimmer oft auch lautstarke Diskussionen mit dem Praxisteam, wenn die Wünsche nicht erfüllt werden. Patienten sind vielmals unzuverlässig und halten vereinbarte Termine nicht ein, was es dann für die Betriebsabläufe schwierig macht. Erfüllt man nicht das Anspruchsdenken, wechseln Patienten dann schnell mal den Hausarzt.

Gibt es in Weil genug Hausärzte, dass einfach Patienten die Praxis wechseln?

Es findet leider keine Kommunikation unter den Weiler Hausärzten statt, was ich sehr bedauere. Von dem her kann ich auch nicht sagen, wohin die Patienten letztlich wechseln. Ich habe aber den Eindruck, dass Patienten mehrere Hausärzte haben.

Während der Corona-Pandemie organisierten Sie tausende Impfdosen und wurden damit bekannter. War das eine gute Werbung für Ihre Praxis oder hat sich das negativ ausgewirkt?

Beides. Viele meiner Patienten haben das gar nicht mitbekommen, dass ich mich auch über Soziale Netzwerke beschwert habe. Ich fühlte mich im Landkreis und auch in Weil alleine gelassen. Es ging mir nicht ums Geld verdienen, was mir oft genug vorgeworfen wurde. Die Patientenzahlen gingen während Corona auch deutlich zurück – womit nachhaltig das Budget sank. Mir ging es in erster Linie darum, meinen Teil zur Pandemiebekämpfung beizutragen. Ich wollte nicht den Rest der Zeit mit Maske durch die Gegend laufen. Einige Kollegen haben den Patientenkontakt auf ein Minimum reduziert, was häufig zu leidvollen Erfahrungen bei Patienten führte.

Stichwort Wirtschaftlichkeit: Ist es für Sie unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten in den zurückliegenden Jahren eine Aufgabe gewesen, den Anteil der Privatpatienten zu erhöhen?

Das hat mich ehrlich gesagt nie interessiert. Die Zwei-Klassenmedizin hat mich schon immer gestört. Privatpatienten kommen oft mit einer großen Erwartungshaltung in die Praxis und fordern eine bevorzugte Behandlung. Ich mache da keinen Unterschied. Es werden alle mit dem gleichen Respekt behandelt.

Sie haben eben gesagt, Friedlingen ist ein sozialer Brennpunkt. Sehen Sie, dass sich die Lage im Stadtteil angesichts der vielen Investitionen bessert?

Friedlingen ist nicht wesentlich anders als Brennpunktstadtteile in anderen großen Städten. Hier lebt ein Großteil der sozial Schwächeren. In der Praxis geht es vielmals um die Themen wie Sucht, chronische Erschöpfung aufgrund von drei bis vier Jobs, um sich über Wasser zu halten, bei gleichzeitig steigenden Kosten. Das ist spürbar. Auch häusliche Gewalt und Missbrauch kommen häufig vor. Zum Praxisalltag gehören zudem chronische Erkrankungen durchs Rauchen und Alkohol sowie falscher Ernährung.

Kommt es Ihnen im Praxisalltag zu Gute, dass Sie eine körperliche Konstitution wie ein Türsteher haben?

Das glaube ich schon. Wenn ich eine klare Ansage mache, ist meist Ruhe im Raum. Viele Patienten kommen sehr gerne, andere wiederum kennen noch nicht einmal mal meinen Namen. Mich persönlich frustet es, wenn Patienten in unverschämter Manier Leistungen einfordern, in der Annahme, ihnen stünde alles zu und offen sowie mit schlechten Bewertungen drohen, wenn diese nicht erfüllt werden.

Und was ist mit Ihren Mitarbeitern?

Nicht selten kommt es vor, dass meine Mitarbeiter zu mir ins Behandlungszimmer flüchten, weil sie Angst bekommen haben. Schon zu Beginn habe ich extra das Wartezimmer und die Anmeldung räumlich verändert. Daher wurden Fluchtwege von der Anmeldung zu meinem Büro geschaffen. Das zunehmende Aggressionspotenzial in Arztpraxen ist aber ein bundesweites Problem.

Und in den vergangenen zehn Jahren hat sich das zum Negativen verändert?

Ja. Wenn ich nicht die körperliche Konstitution hätte, bräuchte ich einen Sicherheitsdienst. Aber ich habe auch schon öfters die Polizei rufen müssen. Wir haben Pfefferspray an der Theke und die große Plexiglasscheibe habe ich nach Corona nicht wieder abgebaut. Was mir fehlt, sind „Guten Tag“, „bitte“ und „danke“. Die grundlegenden Höflichkeitsformen sind bei den Patienten verloren gegangen.

Sie sind auch noch im Palliativnetz Lörrach und beim Wünschebus Südbaden aktiv. In beiden sind Sie als Geschäftsführer und ärztlicher Leiter tätig. Was treibt Sie an?

Der Blick auf den Duschvorhang aus der Zivildienstzeit. Die Tätigkeit im Palliativnetz ist meine Berufung, sie ist sinnstiftend und gibt mir am Ende des Tages eine Zufriedenheit. Es gilt die Lebensqualität der Patienten zu verbessern. Da kann ich eine würdezentrierte Versorgung für den Einzelnen ermöglichen. Aber auch dort gibt es viel Frusterleben, weil uns viele im Landkreis gegenüber negativ eingestellt sind. Vom Landkreis selbst erhalten wir keine Unterstützung. Die Zusammenarbeit mit dem Kreisklinikum ist frustran, insbesondere das Entlassmanagement. Da wird die Gesundheitsversorgung oft schön geredet.

Halten Sie das bis zur Rente aus? Woraus ziehen Sie Ihre Energie?

Ich habe ein Verantwortungsgefühl meinen Mitarbeitern gegenüber, ich kann nicht einfach aufhören und ihnen vor den Kopf stoßen. Natürlich habe ich aber auch Patienten, die mir sehr ans Herz gewachsen sind. Die würden keinen neuen Hausarzt finden. Da nun eine zweite Kollegin mit in der Praxis ist, habe ich es etwas entspannter. In den unsicheren Zeiten werde ich in der Hausarztpraxis nichts mehr investieren. Neben dem hohen Patientenaufkommen und der überbordenden Bürokratie ist es mir wichtig, in diesem Gesundheitssystem nicht auszubrennen.

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