Rheinfelden 345 lebenswerte Leben ausgelöscht

Gabriele Hauger

St. Josefshaus: Online: Gedenken an Euthanasie-Opfer

Rheinfelden-Herten - 345 Menschen sinnlos und grausam ermordet. 345 Schicksale, die von den Nazis als nicht lebenswert eingestuft wurden. Seit den 90er Jahren gedenkt das St. Josefshaus Herten dieses traurigen Kapitels deutscher Geschichte. Dieses Jahr coronabedingt erstmals mit einem Online-Gottesdienst.

Seit 1999 mahnt der Gedenkstein des Rheinfelder Künstlers Leonhard Eder an das Jahr 1940 mit der Inschrift „Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien. Schweige nicht zu meinen Tränen“ (Psalm 39, 13.).

Gedenkstein als stete Mahnung

Der Stein ist eine stete Mahnung daran, was Menschen Menschen antun können; als Mahnung auch daran, dass Einteilungen in lebenswertes und nicht-lebenswertes Leben auch heute noch – oder wieder – gemacht werden. Eine Entwicklung, die den Seelsorger des Hauses, Kassian Burster-Hake, umtreibt.

Seit 2012 gestaltet er regelmäßig die ökumenischen Gedenkfeiern für die Opfer der Euthanasie. Schätzungen zufolge dürften über 200 000 Menschen der wahnhaften Ideologie der Nazis zum Opfer gefallen sein, ehe die Vernichtungsaktion 1941 gestoppt wurde – auch deshalb, weil Gesellschaft und Kirchen protestierten.

Erst aufgrund einer Initiative des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog waren die Verbrechen der Euthanasie zusätzlich zum Holocaust-Gedenken ins Bewusstsein gerückt worden, erklärt Burster-Hake. „Wir möchten dazu beitragen, dass das nie vergessen wird, und laden regelmäßig zur Erinnerung und Mahnung“, erklärt er im Gespräch.

St. Josefshaus hält das Gedenken hoch

Im St. Josefshaus wird das Gedenken hoch gehalten – sowohl bei den Mitarbeitern als auch besonders bei den Bewohnern. Dieses Jahr werden beispielsweise an die Wohn-Gruppen Info-Broschüren in einfacher Sprache zur Euthanasie verteilt. Über die Geschehnisse vor Ort wissen die Bewohner Bescheid. „Bei vielen ist das stark verankert. Und es herrscht bei manchen große Angst, dass so etwas wieder geschehen könnte“, sagt der Pastoralreferent.

Was 1940 in Herten geschah, ist weitgehend bekannt. Graue Busse fuhren vor, vor allem junge Bewohner, die nicht genügend „produktiv“ und arbeitsfähig waren, wurden abtransportiert und grausam ermordet – 345 Leben von insgesamt rund 900 Bewohnern ausgelöscht. „Viele konnten zum Glück gerettet werden. Ordensschwestern flüchteten mit den Bedrohten und versteckten sie im Wald“, erzählt Burster-Hake.

 Die Auswahl für den Weg in den Tod erfolgte meist je nach Grad der Behinderung. Als Kriterium dienten den Nazis auch Wissensfragen. Wie heißt der Führer mit Vornamen? Wann wurde er geboren? „Der Hausleitung gelang es immer wieder, im Vorfeld zu erfahren, welche Fragen gestellt werden sollten. Die Antworten wurden den Bewohnern x-mal vorgesagt, damit sie mit der richtigen Antwort ihr Leben retten konnten“, erzählt der Seelsorger.

Das ganze St. Josefshaus räumt dem Gedenken an dieses unmenschliche Verbrechen große Bedeutung ein. Und auch in der Hertener Bevölkerung, in Politik und Gesellschaft sei dieses Gedenken sehr präsent, erklärt er. Dieses Jahr werden neben dem Online-Gedenk-Gottesdienst, der einige Wochen abrufbar bleibt, Kerzen mit den Namen ermordeter Bewohner rund um den Gedenkstein aufgestellt.

Krude Theorien kursieren bis heute

Erschütternd finden der Seelsorger und die Hausleitung, dass aktuell in Online-Portalen krude Theorien die Runde machten. Diskutiert wurden da beispielsweise Corona-Impftests an geistig Behinderten, da deren Leben ja nicht lebenswert sei.

Infame Äußerungen, die Kassian Burster-Hake besonders erschüttern. Er litt selbst einige Jahre lang unter einer Behinderung. „Ein Arzt sagte damals zu mir: Ihr Leben ist doch nicht lebenswert.“ Eine menschenverachtende Aussage, die ihn bis heute betroffen und nachdenklich macht. „Wie kann jemand über das Leben anderer urteilen?“

Im gut zehnminütigen von ihm geleiteten Gedenk-Gottesdienst finden die Akteure neben bewegenden Worten auch eine berührende Symbolik: 345 Lichter werden entzündet, unter bedrohlichen Motoren-Geräuschen ausgelöscht – und zu melancholischen Geigenklängen wieder zum Leuchten gebracht. Ein Bild, das nachdrücklich dafür steht, dass die 345 Opfer zwar nicht wieder zum Leben erweckt werden können. Erinnerung und Mahnung aber bleiben, damit so etwas nie wieder geschehen kann.   Online-Gottesdienst: www.sankt-josefshaus.de/gedenktag2021.html

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