Schopfheim „Jedes unserer Kinder ist traumatisiert“

Anja Bertsch

Waldorfschule: Junge Zirkusakrobaten aus einem brasilianischen Slum erfahren erstmals Wertschätzung.

Schopfheim - Faszinierend, anrührend, einfach schön: Mit einer Mischung aus anspruchsvoller Akrobatik, Theater und Musik, aus Farben und Klängen aus der ganzen Welt begeisterten die Nachwuchsakrobaten des „Circo Ponte das Estrelas“ (Zirkus Sternenbrücke) am Freitag Hunderte von Zuschauern im Festsaal der Waldorfschule.

War das Bühnenspektakel schon für sich ausgesprochen sehenswert, so bekam die Veranstaltung durch ihren Hintergrund nochmals einen ganz besonderen Beiklang: Die Akrobatik-Kinder im Alter zwischen zwölf und 18 Jahren kommen aus einem Elendsviertel am Rande der brasilianischen Millionenstadt São Paolo.

Struktur, Halt und Anerkennung

Im „Zirkus Sternenbrücke“ finden sie in ihrem ansonsten von Kriminalität, Gewalt, Drogen und Missbrauch geprägten Leben Struktur, Halt und Anerkennung. Einen Einblick in die weit über einen unbeschwert-sehenswerten Zirkus-Theater-Abend hinausreichende Bedeutung der „Sternenbrücke“ gab am Rande der Veranstaltung Regina Klein, die das Projekt gemeinsam mit Katrin Bugert und Celia Santana leitet: „Jedes unserer Kinder ist traumatisiert und hat Schreckliches erlebt.“ Den Kindern und Jugendlichen in dieser Situation einen Halt zu schaffen, sie von der Straße zu holen und ihnen eine Zukunft zu geben: Eben das ist das Ziel des Projektes.

„Der Zirkus ist in dieser Arbeit nur der Anker, der die Kinder lockt und begeistert“, sagt Regina Klein: „Im Grunde geht es darum, die Kinder zu stärken.“ Dabei hilft die Kontinuität, die das Zirkusprojekt ins Leben der Kinder bringt: Jedes Tag kommen sie nach der Schule ins „Zirkusdomizil“, um hier gemeinsam zu trainieren, zu tanzen, zu üben, um gemeinsam zu essen und zu lernen.

Vereinbarung zwischen Schülern und Projektleitern

Dass sie die Schule überhaupt jeden Tag besuchen, gehört dabei schon mit zur feierlich-mündlich geschlossen Vereinbarung zwischen den Kindern und den Projektleiterinnen. Im Idealfall begleitet der Zirkus die Kinder auf diese Weise sechs Jahre lang. Beim Starkwerden hilft vor allem auch die Anerkennung, die die Kinder mit ihrem Können ernten: Regelmäßig gehen die „Zirkuskinder“ innerhalb Brasiliens auf Tournee, um ihr Können an Schulen, Theatern oder auf pädagogischen Kongressen zu zeigen – und erfahren dabei wohltuende Anerkennung.

„Die Kinder aus den Elendsvierteln sind normalerweise die Außenseiter der Gesellschaft: die, die nicht lesen können, die drogenabhängig und kriminell werden. Im Zirkusprojekt können sie sich ganz anders erfahren und zeigen. Und ernten dafür Begeisterung und Applaus“, sagt Regina Klein. Dass das auch ganz woanders funktioniert, erfuhren die Kinder in Schopfheim. Was sie da im Festsaal der Waldorfschule zeigten, riss die Zuschauer über 90 Minuten hinweg immer wieder zu begeistertem Applaus hin: atemberaubende Jonglagen zum Beispiel, mit Keulen und Ringen, mit Bällen und auf Bällen. Ein elegantes Gruppen-„Tänzchen“ auf dem meterhohen Einrad. Eine herzerfrischende Clownsnummer, bei der die brasilianischen Kinder das „Fischers Fritze“ bemerkenswert zungenfertig auf die Bühne brachten, oder ein faszinierendes „Verwirr-Spiel“, bei dem sich in einem Höchstmaß aus Koordination und Präzision gleich mehrere Seilspringer-Dimensionen ineinander verwoben.

Lebensweise und Kulturen kennenlernen

Die Rahmenhandlung bildete die Weltreise des jungen Santiago, der sich aufmacht, andere Lebensweisen und Kulturen kennenzulernen. In kleinen Schauspielszenen mitsamt Kostümierung und passender Musik nahmen die Akteure ihr Publikum mit auf diese Reise – durch Israel und Spanien, durch Afrika, Russland oder die Mongolei. Menschen aus anderen Kulturen begegnen, Erfahrungen teilen und über dem Kennenlernen der anderen auch sich selbst kennenlernen: Eben das ist es auch, was die „Zirkuskinder“ derzeit auf ihrer Deutschlandtournee als Erfahrungsschatz sammeln.

Seit Anfang des Jahres und insgesamt für sechs Wochen reisen die brasilianischen Kinder mit ihrer Show durch Deutschland und werden im verzweigten Netzwerk der von hier stammenden Projektleiterinnen untergebracht und verpflegt.

In der Schopfheimer Waldorfschule etwa sind es die Eltern der vierten Klasse, die die Truppe für vier Tage aufs Üppigste verköstigen, wie Regina Klein, eine der Projektleiterinnen, schwärmt. „Wir wollen den Kindern zeigen, dass es stimmt, was wir ihnen so oft erzählen: Dass man vertrauen kann. Dass es Freundlichkeit und ein Willkommen überall auf der Welt gibt. Genau das ist, was wir hier erfahren.“

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