Steinen Die Diebe kamen während der Revue

Markgräfler Tagblatt
Hans-Peter GüntherFoto: Harald Pflüger Foto: Markgräfler Tagblatt

Weihnachtsgeschichte: Hans-Peter Günther über die „Mittelhofer“ im Kartoffelsack

„Als Otto Krause (Inhaber des Büromaschinen-Fachgeschäfts Krause & Weber, Verkauf und Werkstatt, Leibniz-Straße 30) in Berlin das Rollgitter vor der Ladentür runter kurbelte, schlug es von der naheliegenden Peter- und Paul-Kirche punkt 16 Uhr. Es war Samstag, der 3. Dezember.

Krause schien recht gut gelaunt und strich sich wohlgefällig über den Schnurrbart. Die Arbeit in der Werkstatt hatte er um 12 Uhr beendet. Die Reparatur der Kunden-Schreibmaschine ging schneller als gedacht.

Den Arbeitskittel auf den Bügel gehängt

Er hängte seinen grauen Arbeitskittel auf den alten Holzbügel an diesem schon ewig verbogenen Messinghaken an der Tür. Immer wenn er auf den Haken schaute, kam ihn der Gedanke, ihn einmal zu richten. Nur gemacht hatte er es nie.

Jetzt nach Feierabend ging er daran, das Schaufenster weihnachtlich zu dekorieren. Das machte er immer am 3. Dezember. Das ist Tradition.

Den Karton mit der Aufschrift „Weihnachts-Deko“ hatte er schon bereitgestellt, aber dieses Jahr hatte er etwas ganz Besonderes zu präsentieren.

Die Firma „Seidel & Naumann“, Hersteller der Erika- und Ideal-Schreibmaschinen, hatte ihm auf Grund seiner Verkaufszahlen ein Modell der ersten Schreibmaschine von Peter Mitterhofer als Leihgabe für die Weihnachts-Dekoration zur Verfügung gestellt. Der Gebietsdirektor für Berlin hatte ihm die Maschine, die gänzlich aus Holz handgefertigt war, persönlich vorbeigebracht. Otto Krause war mächtig stolz.

Es wurden nur wenige Händler mit der verkaufsfördernden „Ehre“ bedacht.

Abe er hatte auch wirklich gute Zahlen erzielt.

Er räumte das gesamte Schaufenster leer, putzte alles schön sauber und begann mit der Dekoration.

Als erstes kam die „Mittelhofer-Maschine“ in die Mitte auf einen schönen Holzsockel. So konnte sie gut angestrahlt werden.

Dann kamen vier Kofferschreibmaschinen der Marke Erika in verschiedenen Farben, Stempel und sonstiges Büromaterial, Weihnachtskugeln, Tannenzweige und Glitzersterne dazu. Ganz hinten links wurde eine kleine Krippe platziert.

Otto Krause verließ den Laden, stellte sich vor das Schaufenster und war recht zufrieden. Das eine oder ander wollte er noch etwas verschieben.

Dann kam sein Nachbar Michalsky des Weges, den Mantelkragen hochgeschlagen. „Na Otto, bei dir ist ja schon Weihnachten. Und. Zufrieden?

„Ja schon, soll ja auch ein bisschen festlich aussehen. Das steigert den Umsatz.“

„Also schönen Abend noch.“ Und schon war er in der nächsten Hofeinfahrt verschwunden. Er wohnte im dritten Hinterhaus.

Otto Krause ging wieder ins Haus, nahm noch ein paar Verbesserungen an der Auslage vor, drehte den Lichtschalter an, und das Schaufenster erstrahlte im weihnachtlichen Lichterglanz.

Das Rollgitter bleibt diesmal oben

Das Gitter vor dem Schaufenster ließ er bewusst oben. Man sollte alles ungehindert betrachten können. Wenn Otto Krause nur etwas geahnt hätte.

Otto Krause war zufrieden mit dem Geschäft, der Dekoration und vor allen Dingen mit sich selbst.

Er hatte heute noch etwas Besonderes vor. Darauf freute er sich schon fast das ganze Jahr.

Auch diesmal hatte er wieder eine Karte für die Weihnachts-Revue im Friedrichstadtpalast ergattert, und heute Abend war es soweit.

Er ging die alte Holztreppe hoch in seine Wohnung im ersten Stock. Jede einzelne Stufe knarrte jämmerlich. Leise kam da niemand zu Besuch. Er bewohnte die geräumige Sechs-Zimmer-Wohnung mit der großen Küche alleine. Eigentlich war die Wohnung viel zu groß für eine Person, aber sie gehörte nun mal zum Ladengeschäft.

Nur noch die roten Lackschuhe anziehen

Er fühlte sich recht wohl in der Wohnung, und auch sonst. Nachdem er sich noch einen kleinen Imbiss bereitet und einen Tee getrunken hatte, holte er sich den schwarzen Anzug aus dem Schrank und begann sich umzuziehen. Mittlerweile war es fast 19 Uhr, aber er war fertig. Nur noch die neuen schwarzen Lackschuhe mit den roten Kappen anziehen.

Die hatten ein kleines Vermögen gekostet. Für das Geld hätte man auch eine Schreibmaschine kaufen können (Otto Krause rechnete alles in Schreibmaschinen um). Aber einmal wollte er sich die gönnen, gab er doch sonst nicht viel für sich aus.

Er schloss seine Wohnung ab, ging die hässlich knarrende Treppe nach unten und trat auf die Straße.

Vereinzelt fielen ein paar verirrte Schneeflocken. Als die jedoch auf die Straße auftrafen, waren sie schon keine mehr, sondern nur noch ein kleiner, nasser Fleck.

Trotzdem war er froh, Erwin, den Taxifahrer, bestellt zu haben. Pünktlich wie immer fuhr er mit seinem schwarzen Opel 10/40, den eine weiß-schwarze, schachbrettartige Zierkante als Taxi auswies, vor. „Na Otto, wo geht es heute hin?“

„Heute mal zum Friedrichstadtpalast. Du weißt ja, die Weihnachts-Revue. Da freue ich mich schon Wochen vorher drauf.“ „Wünsch` dir viel Vergnügen. Halt die Augen auf.“

Danke.

30 Minuten später fuhren sie vor den Haupteingang des Friedrichstadtpalasts vor. Vier Taxen waren vor ihnen. Dann war Erwin dran. Was macht das? Immer noch sieben Mark.

Otto gab ihm zehn Mark, bedankte sich und stieg aus.

Er ging die paar Stufen bis zur Garderobenabgabe, grüßte den einen oder anderen Bekannten zurück und übergab seinen Mantel und den Flanierstock mit dem silbernen Pferdekopf der Garderobenfrau, steckte die Marke mit der Nummer ein und suchte seinen Sitzplatz 115. Da er ein bisschen unsicher zögerte und sich suchend umsah, wurde er freundlich eingewiesen.

Jetzt konnte der Abend beginnen

Jetzt konnte der Abend beginnen. Und er begann. Die gesamte Vorstellung war eine Augenweide, ein Vergnügen, musikalisch und optisch.

Gegen 23.15 Uhr fiel der letzte Vorhang und die Besucher spendeten noch einige Minuten stehenden Applaus.

Ein letztes Verbeugen des gesamten Ensembles und es wurde hell im Saal. In der Pause hatte sich Otto Krause noch ein Gläschen Sekt gegönnt, was er eigentlich nicht hätte tun sollen. Verträgt er doch überhaupt keinen Alkohol, was seine Gesichtsfarbe deutlich zum Ausdruck brachte. Die Revue allein kann das nicht verursacht haben.

Als er auf der Straße stand und nach dem nächsten freien Taxi Ausschau hielt, hatte der Schneefall zugenommen. Otto Krause brauchte nicht lange zu warten, denn auch die Taxifahrer wussten, wann die Vorstellungen enden und hielten sich bereit. Schon der zweite Wagen hielt, der Fahrer klappte das Taxi-Schild auf „Besetzt“ um und Otto Krause stieg ein, nannte sein Fahrziel: Leibnizstraße 30.

Als sie in die Straße einbogen, traute Otto Krause seinen Augen nicht. Was ist denn da los, murmelte er zu sich selbst.

Vor dem Geschäft steht die Polizei

Genau vor seinem Geschäft stand ein Polizeiauto mit blinkendem Warnlicht.

Otto Krause stieg aus und sah die ganze Bescherung, obwohl nicht der 24. Dezember war

Man hatte die Schaufensterscheibe eingeschlagen. Das Schlimmste war, dass die Mittelhofer-Schreibmaschine weg war. Fast hätte Otto Krause vergessen, den Taxifahrer zu bezahlen. Aber der Fahrer erinnerte ihn daran.

„Halt. Hier können Sie nicht durch.“ Ein Polizist versperrte Otto Krause den Weg zum Hauseingang. Als er aber dem Polizisten erkläre, dass er der Ladenbesitzer sei, war der Weg frei.

Von der Schreibmaschine, vom Täter und von Zeugen war keine Spur. Die Glassplitter lagen bis auf der Straße. Nach der Spurensicherung und der Schadensaufnahme wurde der Tatort freigegeben.

Jetzt musste Otto Krause noch in der Nacht den Gehsteig säubern, die restlichen Maschinen aus dem Fenster räumen und die Scheibe notdürftig absichern.

So hatte er sich den 3. Dezember nicht vorgestellt. Hätte er doch nur auch vor dem Schaufenster das Rollgitter heruntergelassen. Aber nun war es zu spät.

Dass das Rollgitter oben blieb, musste der Täter ausgenutzt haben. Auch dass Otto Krause an diesem Abend nicht im Haus war.

Nach sechs Monaten wurden die Ermittlungen ergebnislos eingestellt. Otto Krause musste nicht nur für den gesamten Schaden „Seidel & Naumann“ gegenüber einstehen. Er verlor auch die General-Vertretung der Erika- und Ideal-Schreibmaschinen.

Warum auch immer.

Viele Jahre später erbte ein gewisser Claus Blumenthal das kleine Einfamilienhaus am Falkensee, in dem seine Eltern jahrelang gewohnt hatten. Nachdem seine Mutter schon vor längerer Zeit gestorben war, musste sein Vater nun doch in ein Pflegeheim. Er konnte einfach nicht mehr daheim bleiben.

Claus Blumenthal wollte das Häuschen nicht übernehmen, da er in Berlin-Mitte, am Hackeschen Markt, eine moderne Vier-Zimmer-Wohnung gekauft hatte und selbst bewohnte. Daher fiel ihm als Alleinerbe die Aufgabe zu, das Haus zu räumen. Es gab mehrere Kaufinteressenten.

Er beauftragte ein Spezial-Unternehmen mit der Räumung. Man einigte sich auf 1000 D-Mark, besenrein.

Das alles sollte an einem Tag erledigt sein. Claus Blumenthal hatte sich extra frei genommen und war bei der Räumung zugegen.

Einer der Helfer rief ihn plötzlich in den Keller. „Könnten Sie bitte mal kommen. Soll der Sack auch weggeworfen werden?“

Kellerfund beim Wohnungsräumen

„Was ist denn da drin?“ „So ein komisches Holzgestell. Habe ich noch nie gesehen Sieht aus wie ein kleines Klavier.“ „Zeigen Sie mal her.“ Es war die hölzerne Mitterhof-Schreibmaschine aus dem Einbruch bei Otto Krause vor Jahren.

Wie diese in den Kartoffelsack gekommen ist, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Claus Blumenthal hat sie bei seinen Eltern nie gesehen. Er hat sie einem Technik-Museum als Leihgabe überlassen. Mehr konnte ich bisher nicht herausfinden. Schade.

Und ich heiße auch nicht Hyronimus von Münchausen. Trotzdem, oder gerade jetzt: Schöne Weihnachten.“

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