Weil am Rhein Blinder Schüler überwindet Barriere

Alisa Eßlinger

Inklusion: Weiler Abendgymnasium ermöglicht Mohamed Sherif die Weiterbildung / Umdenken benötigt

Weil am Rhein - Die Inklusion ist in der Erwachsenenbildung noch nicht angekommen, findet die Schulleiterin des Weiler Abendgymnasiums, Alexandra Orth. Dass eine Weiterbildung für Menschen mit Behinderung möglich ist, zeigt Mohamed Sherif. Er ist zwar blind, doch besucht seit eineinhalb Jahren das Abendgymnasium. Wie Schule trotz Handicap funktionieren kann, haben die Protagonisten im Gespräch mit unserer Zeitung geschildert.

„In Zeiten der Inklusion an Schulen bleibt leider häufig die Erwachsenenbildung praktisch komplett außen vor“, sagt Schulleiterin Orth. Hier müsse ein Umdenken stattfinden, dass nicht der Lernende sich in ein bestehendes System integriert, sondern das Bildungssystem und die Art zu Lehren sich an die Bedürfnisse aller anpasst.

Das Abendgymnasium ist die erste reguläre Schule, die Mohamed Sherif besucht. Der 29-Jährige wollte sich schon immer weiterbilden, daher hatte er sich, weil er privat oft in Basel ist, im Dreiländereck über die Möglichkeiten informiert. „In der Schweiz gibt es die Möglichkeit nicht direkt.“ Sherif wollte nämlich eine Abendschule unter der Woche besuchen, damit er am Wochenende Zeit für das Privatleben hat.

Nägel mit Köpfen machen

Um die Abendschule besuchen zu können, muss der Züricher jeden Tag zwei bis drei Stunden fahren. „Ich fahre gerne Zug, denn auf dem Weg kann ich vieles über mein Laptop erledigen.“ Aber er gibt zu, dass es auch anstrengend ist, aber das halte ihn eben „jung und fit“. Hilfreich sei auch, dass er nicht in Vollzeit arbeitet.

Der 29-Jährige ist gelernter Programmierer und arbeitet als Informatiker mit dem Schwerpunkt Barrierefreiheit im Internet. Der Umgang mit der Technik habe ihm vor allem auch bei der Abendschule weitergeholfen. „Er hat uns Lehrer anleiten können“, bestätigt seine Klassenlehrerin Mirjam Richter.

Erfahrungen hatte die Schule bereits mit Schülern mit Handicap gemacht. Doch Blindheit war für die Abendschule Neuland. Per Telefon hatte Sherif einen Termin mit der damaligen Schulleiterin Bettina Schindler ausgemacht. „Sie war sehr offen und hat gleich gesagt: ,Wir probieren es aus.’“ Richter: „Sie hat einfach Nägel mit Köpfen gemacht und wir Lehrer mussten mitschwimmen. Aber wir haben daraufhin gleich eine Einsatzgruppe zusammengestellt.“ Anfangs sei es sehr komplex gewesen, vor allem auch über die Grenze hinweg. „Es ist ein internationales Projekt“, sagt Richter schmunzelnd.

Zum Schuljahr 2019/2020 stieg der Züricher probeweise in die 10. Klasse ein. „Wir brauchten etwas Vorlauf für die Organisation und haben zuerst improvisieren müssen. Seit diesem Jahr ist nun alles fix“, sagt Richter. Der Schulträger hat die Hilfsmittel finanziert wie zum Beispiel den Schwellkopierer, der es ermöglicht, ertastbare Bilder zu drucken. Der sonderpädagogischer Dienst des Landes Baden-Württemberg steht den Lehrern für Lehrplan-Fragen zur Seite und informiert über alternative Aufgabenstellungen. So musste Sherif zum Beispiel statt einer Karikatur eine Rede interpretieren.

Die Invalidenversicherung in der Schweiz übernimmt die Personalkosten. Denn um sich im Abendgymnasium-Gebäude und auf dem Hin- und Rückweg zurechtzufinden, hatte ihn ein Lehrer von der schweizerischen Fachstelle für Sehbehinderte im beruflichen Umfeld (Sibu) begleitet. „Mit jeder neuen Baustelle muss ich den Weg neu lernen“, erklärt der 29-Jährige.

Mit seinen Klassenkameraden kommt Sherif gut aus: „Ich habe eine coole Klasse. Sie sind vollkommen unkompliziert, was mich betrifft.“ Zum Beispiel nimmt ihn ein Freund, den er in der Abendschule kennengelernt hat, immer mit zum SBB Bahnhof nach Basel, damit Sherif nach der Schule schneller wieder in Zürich ist.

Assistenz für Unterricht

Derzeit sind es 13 Schüler in Sherifs Klasse – eine kleine Gruppe, bei der man besser auf den einzelnen Schüler eingehen kann, betont Richter. „Wir haben eine sehr bunte Schülerschaft mit unterschiedlichen kulturellen und Bildungs-Hintergründen. Sie helfen und begleiten Mohamed Sherif immer.“ Doch die Klassenlehrerin sieht darin auch ein Problem: Die Mitschüler könnten weniger auf sich achten. „Das wollten wir dauerhaft nicht. Aber ihn ausschließen, das wollten wir auch nicht“, sagt Richter.

Damit Sherif im Schulalltag Unterstützung hat, wirkt seit diesem Schuljahr die Assistenzkraft Nicole Storm mit. Sie ist eine ehemalige Abendgymnasiastin. Die ehemalige Schülerin von Richter will ein Sozialpädagogik-Studium beginnen. „Ich wusste, dass sie ein pädagogisches Interesse hat und bereit ist, Neues zu lernen. Da habe ich sie einfach gefragt, ob sie bei uns arbeiten will“, erzählt Richter.

„Am Anfang war ich mir nicht sicher wegen einer Assistenz, da wir es vorher auch ohne hinbekommen hatten. Aber jetzt merke ich, dass sie mir sehr viel Arbeit abnimmt“, hebt Sherif hervor. Schließlich gebe es nicht alle Texte in digitaler Form und auch Online-Bücher müssen besorgt werden. „Sie weiß, wen man kontaktieren muss“, erklärt Richter. Aber Storm unterstützt ist auch im Unterricht.

Dass alles problemlos läuft, hänge von vielen Menschen ab. Helfen würde aber auch, dass Sherif gut kommuniziere. „Kommunikation ist das A und O. Nicht nur in er Schule, sondern auch grundsätzlich macht es den Umgang mit Menschen einfacher“, findet Sherif.

Keine Berührungsängste

Aber auch für die Lehrer galt es, sich umzustellen. „Den Aufwand, den wir und auch Sherif leisten, ist deutlich mehr. Wir haben wahnsinnig viel gelernt und lernen auch jetzt noch dazu“, sagt Richter. Einfache Dinge, wie „Schauen Sie sich das mal an“, werden schnell zur Unsicherheit. Oder auch, dass Vokabeln buchstabiert werden müssen, seien Teil des Lernprozesses.

Richter erinnert sich an eine Situation, als sie Sherif bat, in einen Nebenraum zu kommen, um mit ihr sein Halbjahreszeugnis zu besprechen. „Er hat seine Hand auf meine Schulter gelegt, um geführt zu werden – was normalerweise kein Schüler macht. Dann sagte er zu mir: ,Frau Richter, ich habe Sie mir immer viel größer vorgestellt.’ Erst dann hatte ich einen Aha-Effekt.“

Wichtig sei es auch, dass die Lehrer offen und motiviert sind. Auch Berührungsängste sollte man nicht haben. „Man braucht keine Angst haben, etwas Dummes zu sagen. Fehler sind menschlich“, betont Sherif.

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