Weil am Rhein „Das sind Lebenserleichterungen“

Marco Fraune
OB Wolfgang Dietz blickt gespannt auf die Europawahl und die Kommunalwahl. Foto: Alisa Eßlinger

Interview: OB Wolfgang Dietz betont Frieden und Wirtschaft. „Verkommen sonst zum Museum der Welt“.

Weil am Rhein - Das Interesse an Europa ist für OB Wolfgang Dietz „meine politische Berufung“. Ab 1987 hat er in Brüssel das Informationsbüro des Landes Baden-Württemberg aufgebaut, das ab Ende der 1990er-Jahre offiziell als Vertretung des Landes bei der EU bezeichnet wurde.

Aus dem langjährigen Leiter ist 2000 der Oberbürgermeister von Weil am Rhein geworden. Gespannt blickt er nun auf „die zentralste Wahl seit Jahrzehnten“. Den Urnengang will er im Gespräch mit unserer Zeitung aber nicht als Schicksalswahl bezeichnen. „Dafür ist mir das Wort ein bisschen zu groß.“

Haben Sie schon den Wahl-O-Mat betätigt?

In meinem Kopf. Ein Wahl-O-Mat ist für mich keine Hilfe.

Wenn ich an Europa denke, fallen mir Euro und Frieden als Stichworte ein. Wie geht es Ihnen?

Ich würde die Abfolge umdrehen. Zuerst kommt für mich ein friedliches Zusammenleben in kultureller Vielfalt. Im westlichen Kerneuropa herrscht seit einem Dreivierteljahrhundert Frieden, doch wir müssen dafür Sorge tragen, dass es der restliche Teil des Kontinents auch so erleben kann. Das zweite, was mir wichtig ist, ist die wirtschaftliche Stärke in Relation zum Weltmarkt. Europa kann in der globalen Auseinandersetzung mit anderen Staaten wie China, Amerika oder auch Russland nur reüssieren, wenn es zusammenhält. Der Euro ist dafür auch ein Mittel.

Sie sind ein glühender Europäer und auch ein Kommunalpolitiker mit Herz und Seele. Finden Sie es gut, dass die Europawahl und die Kommunalwahl gleichzeitig stattfinden?

Ich halte es für richtig. Wir dürfen nicht vergessen: Die Parteien haben gar nicht so viel Geld, Wahlkämpfe zu finanzieren. Das ist ein praktischer Gesichtspunkt. Das zweite: Für uns in Weil und der Region kommt es sogar zupass. Bei uns kann man den Leuten noch zeigen, wie Europa ganz praktisch wirkt und vielleicht noch aus der persönlichen Biografie ableiten, wie sich dank dieser EU die Dinge verändert haben.

Für welche Wahl interessieren Sie sich mehr?

Selbstverständlich für die Kommunalwahl. Das kommunale Geschehen ist mein Beruf, das Interesse an Europa ist meine politische Berufung, mein politisches Weltbild, mit dem ich mich beschäftige. Aber für meine tägliche Arbeit sind die Zusammensetzung des Gemeinderats und dessen Zielrichtungen essenzieller.

19 Jahre ist es her, dass Sie von der Leitung der Vertretung des Landes bei der EU in Brüssel nach Weil als OB gekommen sind: Wie hat sich Ihr Europabild seitdem verändert?

Das Europabild folgt dem, was seitdem passiert ist. 1987 gab es noch den „Eisernen Vorhang“, es war das kleine Europa. Ich habe dann die Erweiterung um die skandinavischen Staaten erlebt, die Österreicher kamen dazu, es ging weiter mit dem Thema Osterweiterung. Die Gemeinschaft von damals, die neun Länder, das war etwas ganz anderes als die Gemeinschaft, die wir heute haben, mit fast 30 Staaten.

Einige sagen: Früher war alles besser. War es früher besser?

Es war früher leichter handhabbar. Wenn es viele verschiedene Interessen gibt, ist es immer schwerer, als wenn ich weniger Gemeinsamkeiten habe. Daher ist der Urgedanke, den Wolfgang Schäuble eingebracht hat, nicht ganz von der Hand zu weisen: So könnte man eine Art Zwiebelmuster für Europa zu Grunde legen. Mit einigen gibt es eine engere Zusammenarbeit, mit anderen eine losere.

Heute sind Sie in einer anderen Rolle im Vergleich zur Brüsseler Zeit. Sie müssen das umsetzen, was Europa vorgibt. Wie oft ärgern Sie sich?

Ich ärgere mich über zwei Dinge: Zum einen gibt es in der Bürokratie Leute, die meinen, sie können das Paradies auf Erden herstellen, man müsse nur höchstmögliche Normen für alles formulieren. Das Leben ist aber nicht im Paradies. Das zweite, was mich ärgert, ist, dass Europa Normen untergejubelt werden, die keine europäischen Normen sind.

Aber liegt das teils schlechte Bild von Europa nicht manchmal auch an den Politikern? Elmar Brok, CDU-Europa-Urgestein, hat gesagt: Wenn die Sonne scheint, waren es Paris und Berlin, wenn es regnet, war es Brüssel. Redet die Politik Brüssel teilweise zur Eigenprofilierung schlecht?

Das gibt es im Kommunalbereich aber auch. Der Mechanismus auf europäischer Ebene sieht vor, dass Vorschläge durch die Kommission gemacht werden, dann werden sie entschieden – entweder durch den Ministerrat alleine und/oder durch das europäische Parlament im Kodezissionsverfahren, da müssen also beide entscheiden. Sobald die Sache unangenehm wird, zeigt leider jeder auf den anderen und irgendwann muss ein Kompromiss gefunden werden. Das „Schönste“ ist für mich, wenn danach ein irgendwie gearteter Minister sagt: Brüssel hat entschieden. Dabei ist es eine Institution, bei der man selber womöglich noch saß und zugestimmt hat.

Wie viel Europa steckt eigentlich im Weiler Rathaus?

Schwer zu sagen. Es gab einmal eine Aussage von Jacque Delors, der hatte geschätzt, dass 80 Prozent des nationalen Rechts auf europäischen Richtlinien oder Verordnungen beruhen. Ich habe aber nie eine Quantifizierung gesehen.

Weil profitiert aufgrund der Grenzlage aber stärker von Europa als Städte wie Essen oder Dortmund.

Das denke ich schon. Aufgrund unserer Grenzlagesituation müssen wir bei den Menschen jedoch in Erinnerung rufen, wo wir herkommen. Ich bin 15 Meter von der Grenze zur Schweiz groß geworden. In die Schweiz reinzukommen und dort rauszukommen, war speziell. Weil hatte keine Brücke zu Frankreich. Heute gibt es dank des Binnenmarkts keine Grenzkontrolle mehr für Waren, und die Personenkontrolle wurde reduziert dank des Schengen-Raums. Das sind Lebenserleichterungen.

Es gibt die größte Oppositionspartei im Bundestag, die speziell die negativeren Seiten betont. Stichworte Grenzschutz und Migrationspolitik: Welche Sichtweise haben Sie hinsichtlich dieser Themen?

Ich glaube, dass eine Rückkehr zu nationalem Handeln zu kurz springt. Wir leben in einer Welt, in der schon eine Völkerwanderung stattfindet. Wenn die Not groß ist, machen sich die Leute auf den Weg. Man muss damit richtig umgehen, nicht national, sondern indem man sich international aufstellt – das gilt für das Thema Grenzschutz einerseits, genauso wie für die Frage, wie ich den Menschen im Herkunftsland eine Perspektive biete. Das kann aber kein Staat alleine. Da liegt die Lösung in mehr Europa und nicht in weniger Europa. Doch wir stoßen dann wiederum auf Kompetenz-Ehrenhöfe aus der Vergangenheit, die ganz schwierig zu überwinden sind.

Wie beim Thema europäische Armee und Mehrheitsentscheidungen im europäischen Parlament.

Was würde die Öffentlichkeit sagen, wenn eine Mehrheit aus Luxemburgern, Maltesern, Italienern, Franzosen und Griechen beschließt, dass wir mit unseren Armeen in einen bewaffneten Konflikt ziehen und die Mehrzahl der Soldaten von Deutschen gestellt wird. Würden wir es uns durch Dritte vorschreiben lassen? Ich werfe einfach mal die Frage in den Raum.

Gerne dürfen Sie Ihre persönliche Antwort geben.

Die Wirklichkeit dieser Welt muss das auflösen und wir müssen die Größe innerlich entwickeln zu sagen: Wir sind in erster Linie Europäer und erst in zweiter Linie Nationalvertreter.

Die Vereinigten Staaten von Europa – ist das Ihre Blickrichtung?

Wie das Konstrukt am Ende des Tages heißt, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass wir die Größe entwickeln müssen, zu verstehen, dass wir in dem gesamten Weltkontext nur noch eine Rolle spielen können, wenn wir über den eigenen nationalen Gartenzaun hinaus bereit sind, uns zusammenzutun. Ansonsten haben wir keine Chance und verkommen zum Museum der Welt.

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