Weil am Rhein „Nur die Kultur kann noch helfen“

Ingmar Lorenz
International unterwegs: Auch die Philharmonie in Madrid hat Scheider im Jahr 2016 schon dirigiert. Foto: zVg

Interview: Komponist Enjott Schneider über Krisen, neue Blickwinkel und sein Vertrauen in die Jugend

Der aus Weil am Rhein stammende Komponist Enjott Schneider kennt die internationale Kulturszene wie seine Westentasche. Durch seine vielfältige Tätigkeit hat er einen umfassenden Eindruck von den Herausforderungen, mit denen sich die Künstler in den vergangenen Jahren konfrontiert sahen.

Von Ingmar Lorenz

Weil am Rhein. Im Gespräch mit unserer Zeitung berichtet Schneider über die Auswirkungen der zahlreichen Krisen auf den Kulturbetrieb und erklärt, warum Kunst als „geistige Nahrung“ und als Essenz des Mensch-Seins unabdingbar ist.

Frage: Herr Schneider, zuerst Corona mit all seinen Einschränkungen, dann der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise und die Inflation: Wie haben sich die globalen Krisen auf Ihre Tätigkeiten ausgewirkt?

Die Auswirkungen waren zumindest doppelt, also real-physisch und immateriell-geistig beziehungsweise psychisch. Real sind bei allen Musikschaffenden die Aufführungen weggebrochen, gecancelte Konzerte wurden zur Norm. Wer nicht das Netz einer festen Anstellung – ob als Lehrer oder als festes Orchestermitglied – hatte, der ist massiv eingebrochen. Arbeitslosigkeit, das Beenden von Karrieren, Umschulungen und den Sturz ins Prekariat musste ich im gesamten Freundeskreis erleben. Schlimmer war jedoch die lähmende geistige Haltung: „Systemrelevanz“ meinte letztlich eine krasse Überbetonung des Materiellen. Der ungeheure Wert von Kultur als eine tiefe Qualität des Seins, als eigentliche Essenz des Mensch-Seins, wurde mit Füßen getreten.

Frage: Hat sich Ihre Herangehensweise an Ihre Arbeit geändert? Anders ausgedrückt: Spiegeln sich die jüngsten Krisen in Ihrer Musik wider?

Vor Corona war ich international an großen Opern- oder Symphonikproduktionen beteiligt. 75 Prozent meiner Zeit war ich reisend im Ausland bei Projekten mit Menschen aus allen Erdteilen. China oder Russland wurden fast eine Heimat, an der Amazonas-University in Manaus hatte ich eine Honorarprofessur. Jetzt beschränke ich mich mit großem Gewinn und neuen Blickwinkeln auf nationale Projekte und kleinere Konfektionsgrößen. Kammermusik mit ihrer Intimität und Feinheit habe ich zum Beispiel wieder für mich entdeckt. Auch die Themen haben gewechselt: Eben habe ich eine „Recycling Symphony“ als Protest gegen die Zerstörung des Planeten – mit 150 Millionen Tonnen Plastik jährlich in den Weltmeeren – beendet. Ich habe zwei Werke zum Thema „Artensterben der Insekten“ geschrieben und den Mythos „Baum“ sowie den Erhalt der Schöpfung mehrfach thematisiert. Meine Musik hat eine neue Spiritualität erfahren. Das ist sehr bereichernd.

Frage: Welche Bedeutung haben Kunst und Kultur Ihrer Ansicht nach gerade in Krisenzeiten generell?

In der Kunst kann der innere Mensch sich „ausdrücken“, expressiv sein. Das muss er als psychologisches Grundgesetz: Wenn jemand Ängste, Probleme, Visionen oder Zweifel nicht ausdrücken kann, dann wird man psychotisch und krank. Das gilt für ein Individuum wie für die Gesellschaft als Ganzes. Glauben Sie mir: So „krank“ und fern von natürlichen humanen Reaktionsweise wie momentan war unsere Zivilisation noch nie. „Profit“ und „Ego“ haben uns zu unmenschlichen Panzertieren gemacht, allenfalls Kultur und eine darauf beruhende Feinmotorik von Körper und Seele kann da noch helfen.

Im Vaterunser, das Jesus in seiner aramäischen Sprache überlieferte, war mit „tägliches Brot“ nicht allein ein materielles Essen gemeint, das aramäische „lachma“ bedeutet neben Brot auch „Einsicht“ und „geistige Nahrung“. Das vermittelt Kultur.

Frage: Gerade während der Corona-Krise wurde häufig die Kultur als „Kitt der Gesellschaft“ beschworen. Gab und gibt es genug Unterstützung für die Kulturszene, oder waren das mehr oder minder doch nur Worthülsen?

Meine Antwort darauf hängt direkt mit dem eben Gesagten zusammen. Auf der materiellen Ebene gab es wohl erfreuliche Netze und materielle Hilfe; das wurde aber konterkariert von Aufführungs- und Musizierverboten, Singverboten, Besuchsverboten in Kliniken und Heimen – selbst bei Sterbenden. So kreativ man beim Lockermachen von Geldern war, so unkreativ bis brutal war man bei der Regulierung von Zwischenmenschlichem und Kontakten. Nicht nur Alte und Kinder haben irreparable psychische Schädigungen bekommen, der Kultur als Ganzes hat man ihre Fähigkeit als „Kitt“ genommen.

Frage: Auch der Krieg in der Ukraine wirkt sich auf die Kulturlandschaft aus. Wie nehmen Sie die aktuelle Debatte zum Umgang mit russischen Künstlern wahr?

Ich war mehrfach in der Ukraine zu Konzerte und Workshops und kenne auch Russland sehr gut. Sibirien war viele Jahre mein „Sehnsuchtsland“: liebe, meist arme Menschen, Freunde, großes Herz. Auch in den Künsten. Es ist völlig sinnlos, diese Menschen dafür zu bestrafen, dass sie von einer extrem korrupten Militär-Mafia schon seit Jahren unterdrückt und gemaßregelt werden. Die Propaganda und Meinungsunterdrückung in Russland ist so perfide, dass man nicht verächtlich mit dem Finger auf diejenigen zeigen sollte, die den Durchblick nicht bekommen konnten. Noch vor kurzer Zeit haben wir einen Führer bejubelt, der millionenfach Juden mordete. Und jetzt gerieren wir uns plötzlich als wissende Saubermänner?

Frage: Wenn wir schon über Kultur und Krise reden: Auch die Klimakrise rückt derzeit durch umstrittene Aktionen von Klimaschützern in Museen und Konzerthäusern in den medialen Fokus. Haben Sie Verständnis für Aktionen dieser Art?

Museen und Konzerthäuser sind sicher der falsche Ort. Ich würde mal zu den Pharmakonzernen, der Nahrungsmittel-Mega-Industrie oder zu den Internetgiganten gehen und dort protestieren, wo man nur Profit im Hirn hat und sinnlos überproduziert, und das alles vierfach in Plastik verpackt. Was soll hier die Elbphilharmonie schuldig sein?

Frage: Bei den vielen Herausforderungen, die es in letzter Zeit zu meistern gilt, ist es nicht immer leicht, positiv in die Zukunft zu schauen. Gibt es trotzdem Erlebnisse aus den zurückliegenden Monaten und Jahren, die Sie in Ihrer Zuversicht beim Blick voraus bestätigt haben?

Meine Hoffnung ruht auf deutlichen Tendenzen in der Jugend. Neue Werte wie Freundschaft und Achtsamkeit, Liebe zur Natur und zum Planeten Erde sowie die Abkehr vom materiellen Profit- und Habenwollen-Denken. Carsharing, Elternzeit, Gleichstellung der Geschlechter – das sind wundervolle, wenn auch noch leise Anzeichen.

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