In der Kunst kann der innere Mensch sich „ausdrücken“, expressiv sein. Das muss er als psychologisches Grundgesetz: Wenn jemand Ängste, Probleme, Visionen oder Zweifel nicht ausdrücken kann, dann wird man psychotisch und krank. Das gilt für ein Individuum wie für die Gesellschaft als Ganzes. Glauben Sie mir: So „krank“ und fern von natürlichen humanen Reaktionsweise wie momentan war unsere Zivilisation noch nie. „Profit“ und „Ego“ haben uns zu unmenschlichen Panzertieren gemacht, allenfalls Kultur und eine darauf beruhende Feinmotorik von Körper und Seele kann da noch helfen.
Im Vaterunser, das Jesus in seiner aramäischen Sprache überlieferte, war mit „tägliches Brot“ nicht allein ein materielles Essen gemeint, das aramäische „lachma“ bedeutet neben Brot auch „Einsicht“ und „geistige Nahrung“. Das vermittelt Kultur.
Frage: Gerade während der Corona-Krise wurde häufig die Kultur als „Kitt der Gesellschaft“ beschworen. Gab und gibt es genug Unterstützung für die Kulturszene, oder waren das mehr oder minder doch nur Worthülsen?
Meine Antwort darauf hängt direkt mit dem eben Gesagten zusammen. Auf der materiellen Ebene gab es wohl erfreuliche Netze und materielle Hilfe; das wurde aber konterkariert von Aufführungs- und Musizierverboten, Singverboten, Besuchsverboten in Kliniken und Heimen – selbst bei Sterbenden. So kreativ man beim Lockermachen von Geldern war, so unkreativ bis brutal war man bei der Regulierung von Zwischenmenschlichem und Kontakten. Nicht nur Alte und Kinder haben irreparable psychische Schädigungen bekommen, der Kultur als Ganzes hat man ihre Fähigkeit als „Kitt“ genommen.
Frage: Auch der Krieg in der Ukraine wirkt sich auf die Kulturlandschaft aus. Wie nehmen Sie die aktuelle Debatte zum Umgang mit russischen Künstlern wahr?
Ich war mehrfach in der Ukraine zu Konzerte und Workshops und kenne auch Russland sehr gut. Sibirien war viele Jahre mein „Sehnsuchtsland“: liebe, meist arme Menschen, Freunde, großes Herz. Auch in den Künsten. Es ist völlig sinnlos, diese Menschen dafür zu bestrafen, dass sie von einer extrem korrupten Militär-Mafia schon seit Jahren unterdrückt und gemaßregelt werden. Die Propaganda und Meinungsunterdrückung in Russland ist so perfide, dass man nicht verächtlich mit dem Finger auf diejenigen zeigen sollte, die den Durchblick nicht bekommen konnten. Noch vor kurzer Zeit haben wir einen Führer bejubelt, der millionenfach Juden mordete. Und jetzt gerieren wir uns plötzlich als wissende Saubermänner?
Frage: Wenn wir schon über Kultur und Krise reden: Auch die Klimakrise rückt derzeit durch umstrittene Aktionen von Klimaschützern in Museen und Konzerthäusern in den medialen Fokus. Haben Sie Verständnis für Aktionen dieser Art?
Museen und Konzerthäuser sind sicher der falsche Ort. Ich würde mal zu den Pharmakonzernen, der Nahrungsmittel-Mega-Industrie oder zu den Internetgiganten gehen und dort protestieren, wo man nur Profit im Hirn hat und sinnlos überproduziert, und das alles vierfach in Plastik verpackt. Was soll hier die Elbphilharmonie schuldig sein?
Frage: Bei den vielen Herausforderungen, die es in letzter Zeit zu meistern gilt, ist es nicht immer leicht, positiv in die Zukunft zu schauen. Gibt es trotzdem Erlebnisse aus den zurückliegenden Monaten und Jahren, die Sie in Ihrer Zuversicht beim Blick voraus bestätigt haben?
Meine Hoffnung ruht auf deutlichen Tendenzen in der Jugend. Neue Werte wie Freundschaft und Achtsamkeit, Liebe zur Natur und zum Planeten Erde sowie die Abkehr vom materiellen Profit- und Habenwollen-Denken. Carsharing, Elternzeit, Gleichstellung der Geschlechter – das sind wundervolle, wenn auch noch leise Anzeichen.