^ Weil am Rhein: So viele Krisen wie noch nie - Weil am Rhein - Verlagshaus Jaumann

Weil am Rhein So viele Krisen wie noch nie

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Im Anschluss an seinen Vortrag trug sich Gastredner Günther Oettinger im Beisein von Oberbürgermeister Wolfgang Dietz ins Goldene Buch der Stadt Weil am Rhein ein. Foto: zVg/Bähr

Wirtschaftstreffen: Gastredner Günther Oettinger findet deutliche Worte / Rund 220 Gäste kommen

Kein Blatt vor den Mund genommen hat Günther Oettinger beim Weiler Wirtschaftstreffen, das die Weil am Rhein Wirtschaft & Tourismus (WWT) organisierte. Der frühere Ministerpräsident Baden-Württembergs und langjährige EU-Kommissar legte im großen Sitzungssaal des Rathauses den Finger in die Wunde und machte klar, warum Deutschland und Europa dringend entscheidende Reformen benötigen.

Weil am Rhein. „Die EU besteht aus 27 Staaten. Die eine Hälfte ist klein, die andere Hälfte weiß, dass sie klein ist“, stellte Oettinger fest. Zwerge also im Vergleich zu den Weltmächten. „Zwerge stellt man in den Vorgarten und dort werden sie von den Hunden angepinkelt.“ Deshalb könne man nur gemeinsam etwas erreichen. Nur miteinander biete man Autokraten und Diktatoren wie Putin die Stirn. „Wir müssen die Dinge europäisch entwickeln.“

Mit Schweiz zusammenarbeiten

Dazu gehöre auch, das Verhältnis zur Schweiz wieder zu verbessern. Die bilateralen Verträge müssten unterzeichnet werden. „Brüssel ist einerseits zu streng mit der Schweiz. Die Schweizer wiederum haben die Hosen voll vor den Rechtspopulisten im Land.“ Hoffentlich gebe es in diesem Bereich neue Impulse. Gerade auch in Sachen Forschung sei eine Zusammenarbeit wichtig. Oettinger verwies darauf, dass unter den 50 weltbesten Universitäten zwei aus der Schweiz auftauchten, aber keine aus der EU. Hier gelte es, zusammenzuarbeiten: „Wir haben die Masse, die Schweiz die Expertise.“ Europa müsse wieder attraktiver werden, gerade auch für die Schweizer. Das gelinge aber nicht, wenn der Franken mehr Wert als der Euro sei. Apropos attraktiv: Der Kampf um Partner aus aller Welt sei voll entbrannt. Die Hälfte der Staaten hält die Flagge der Demokratie nach oben, die andere wird autoritär regiert. Diese beiden politischen Systeme versuchten nun, mit ihren Überzeugungen Partner auf ihre Seite zu bringen. Der 69-Jährige erklärte, dass China derzeit viele Millionen Menschen raus aus der Armut und hinein in den Wohlstand bringe. „Denen ist die eingeschränkte Freiheit egal“, machte er klar. Die westliche Welt müsse, um in diesem Wettbewerb zu überzeugen, attraktiver werden.

Über die Rente mit 70 reden

Rund 220 Unternehmer aus Weil am Rhein waren zur 18. Auflage des Wirtschaftstreffen gekommen, teilt die Stadt mit. Gastredner Oettinger scheute sich nicht, unter dem Titel „Neues Denken in Europa – Europa neu denken“ unangenehme Aussagen zu treffen, Ross und Reiter zu nennen und Krisen klar anzusprechen. „Wir erleben eine Vielzahl von Krisen, die es so in dieser Qualität und Quantität noch nie gegeben hat. Nur im deutschen Romantiktal ist das noch nicht angekommen“, ließ der Jurist und Präsident der EBS Universität für Wirtschaft und Recht wissen. Er sprach die Hungersnot („Unser Edeka ist aber voll“) und die Krise bei den Lieferketten („Sie sind nicht im Gang“) an, den Rohstoffmangel („Wir verbrauchen doppelt so viel Holz als nachwächst“) und das Arbeitskräfte-Problem, das durch den demografischen Wandel noch weiter verstärkt wird.

Oettinger hielt die Rente für 63 für einen großen Fehler („Finanziell nicht machbar. Wir müssen über die Rente mit 70 reden“) und prangerte das Festhalten am Home-Office an. Schließlich dürften die 70 Prozent der Beschäftigten, bei denen das Arbeiten von zu Hause nicht möglich ist, nicht die „Dummen“ sein. Es sei schlicht ein Gebot der Fairness und der Solidarität, wenn diejenigen, die zuletzt im Home-Office waren, nun wieder in den Betrieb zurückkehren würden. Überhaupt werde der Begriff Work-Life-Balance „mehr als Life statt als Work“ verstanden. Um aber Deutschland wirtschaftlich wettbewerbsfähig zu machen, brauche es wieder „mehr Work“.

Reformagenda 2030 ist nötig

Eine Reformagenda 2030, um den sozialen Wohlstand zu erhalten, müsse sein. Es brauche mehr Entwicklung, mehr Forschung, mehr Innovation und vor allem keine Generationenungerechtigkeit. Der CDU-Mann lobte in diesem Zusammenhang die Sozialdemokraten Clement, Müntefering, Steinmeier und Schröder, da diese 2003 erkannt hätten, was das „kranke“ Deutschland benötige, um sich zu erholen. „Sie haben für einen Aufschwung gesorgt.“ Von diesem sei nun aber nichts mehr übrig.

Der fallende Euro-Kurs sei doch ein klares Zeichen dafür, wie es um die Wirtschaft steht. „Nur das berührt uns im Romantiktal nicht“, so Oettinger, der glaubt, dass die Inflation gekommen sei, um zu bleiben. „Damit einher geht eine Quasi-Enteignung der fleißigen, kleinen Familien.“ Ein schlechtes Zeugnis stellte er in diesem Zusammenhang EZB-Präsidentin Christine Lagarde aus. „Sie hat versagt.“ Eine Aufgabe der Europäischen Zentralbank sei eben die Geldwertstabilität.

Heizen wohl wichtiger als Solidarität

Die Energiekrise fehlte nicht bei den Ausführungen Oettingers. Der vermutete, dass es den Deutschen, wenn es im Herbst wieder kalt werde, wichtiger sei, 22 Grad in der Wohnung zu haben statt Solidarität mit der Ukraine zu zeigen. Gas indes benötige man noch weitere 15 Jahre. „Deutschland ist ein Industrieland und wird es bleiben. Wir brauchen große Mengen“, machte er klar. „BASF benötigt mehr Gas als Dänemark.“ Für ihn stand fest, dass man zur Überbrückung die Atomkraftwerke noch mindestens bis Frühjahr laufen lasse müsse und nicht im Januar abstellen dürfe.

Wo wir bei der Klimakrise wären: „Deutschland ist für zwei Prozent aller Treibhausgase verantwortlich, die USA und China für 32 Prozent“, führte Oettinger aus. In der Gesamtbetrachtung mache es also keinen Sinn, strenge Regeln einzuführen, wenn in Asien die Schlote qualmen.

Die Gäste quittierten den Vortrag mit langanhaltendem Applaus. Nach einer kurzen Fragerunde mischte er sich unter die Gäste.

Weitere Redner waren Oberbürgermeister Wolfgang Dietz, der einen Vortrag zum Thema „Unser Platz mitten in Europa“ hielt, sowie die WWT-Geschäftsführer Peter Krause und Martin Gruner (Bürgermeister), die über „Neues aus der Wirtschaftsförderung“ berichteten.

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