Zell im Wiesental Protestantisches Dorf allein auf weiter Flur

Markgräfler Tagblatt

Reformationsserie – Folge 12: Gresgen nimmt im katholisch geprägten Zeller Bergland immer noch eine Ausnahmestellung ein

Von Anja Bertsch

Der Thesenanschlag Martin Luthers im Jahr 1517 war der Auftakt zur Reformation, ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung. 500 Jahre später wird in ganz Deutschland das Jubiläum gefeiert. Im Rahmen einer Serie blicken wir auf die Reformation im Dreiländereck und ihre Auswirkungen. Die Serie wandert bis Ende November durch den gesamten Lokal- und Regionalteil unserer Zeitung. In der zwölften Folge geht es um das evangelisch geprägte Dorf Gresgen, das zur katholisch orientierten Stadt Zell gehört.

Zell-Gresgen. Der Zeller Ortsteil Gresgen mit seinen 475 Einwohnern befindet sich als traditionell evangelisches Dorf allein auf weiter Flur im ansonsten katholischen Zeller Bergland. Das hat historische Wurzeln, die noch vor die Reformation im 16. Jahrhundert zurückreichen. Und es hat Auswirkungen, die noch heute zu spüren sind: Im Dialekt, in der Glaubensrichtung oder in den mentalen (Nicht-)Zugehörigkeiten, die zumindest die Älteren noch immer empfinden, hat sich das Dörfchen seinen Ausnahmestatus innerhalb der Stadt Zell mit ihren sechs Ortsteilen bewahrt. Vor allem aber die Ressentiments zwischen Gresgen und dem Nachbardorf Adelsberg zwei Kilometer weiter werden von beiden Seiten noch immer sorgsam kultiviert – mittlerweile freilich mit einer ordentlichen Portion Augenzwinkern.

Dass die Gräben zwischen Adelsberg und Gresgen tief waren (und es irgendwie immer noch sind), verwundert nicht so sehr: Tatsächlich ist die Geschichte von Trennung und Abgrenzung zwischen den beiden Dörfern, oder noch grundsätzlicher: zwischen Gresgen und den übrigen Dörfern des Zeller Berglands, nun einmal wesentlich älter als das gemeinsame Kapitel, das 1974 aufgeschlagen wurde, und in dem man sich als eingemeindete Teilorte ein und derselben Stadt wiederfindet. Zuvor waren die Dörfer eigenständige politische Gemeinden.

Vor allem aber verlief – noch weiter zuvor′ – zwischen den beiden Dörfern über Jahrhunderte hinweg die Grenze zwischen den beiden Großmächten Baden und Vorderösterreich: Gresgen gehörte wie das Kleine und das Große Wiesental ab Hausen südwärts zur Markgrafschaft Baden. Direkt an der Dorfgrenze zur anderen Seite hin begann das habsburgische Vorderösterreich, das sich unter anderem das obere Wiesental einverleibt hatte.

Im Jahr 1556 führte Markgraf Karl II. in seiner Markgrafschaft Baden-Durlach die Reformation ein. Die hergebrachte Konfliktlinie zwischen Baden und Österreich erhielt dadurch eine neue Dimension: Waren es zuvor rein territoriale Rivalitäten, kam nun die religiöse Auseinandersetzung zwischen dem hergebrachten Katholikentum der Habsburger und der badischen Reformationsbewegung hinzu – so analysiert es die Gresger Ortschronik. Dabei sträubten sich die Gresger dem Vernehmen nach zunächst gegen den von oben verordneten Glaubenswechsel. Statt die neuerdings unter protestantischen Vorzeichen abgehaltenen Gottesdienste in der Kirche in Tegernau zu besuchen, pilgerten viele Dorfbewohner nun nach Zell, um dort den katholischen Gottesdienst zu besuchen. „Erst massive Strafandrohungen seitens des Markgrafen bewegten die Gresger schließlich, den neuen Glauben anzunehmen und die Gottesdienste in Tegernau zu besuchen“, heißt es in der Historie der Stadt Zell.

Einmal jedoch verinnerlicht, entwickelten sich die unterschiedlichen Glaubensrichtungen zu einem entscheidenden Faktor, an dem sich die je eigene Identität der Dorfbewohner und die hergebrachten Konflikte zwischen Menschen aus Gresgen und Adelsberg künftig besonders festmachen sollten. Und die Konfessionszugehörigkeit erweiterte zugleich das Feld, auf dem man die Animositäten treffsicher ausspielen konnte – etwa, indem man sich gegenseitig die höchsten kirchlichen Feiertage vergällte: Noch bis vor fünfzig Jahren fiel es den Adelsbergern mit schöner Regelmäßigkeit ausgerechnet am Karfreitag als höchstem evangelischen Feiertag ein, auf ihren Feldern „Mist zu führen“. Dass sie mit ihrer Fracht durchs Nachbardorf fahren mussten, um ihre Felder zu erreichen, war durchaus mehr als ein bedauerlicher Zufall. An Fronleichnam dann kam die Retourkutsche, schließlich hatten auch die Gresger Grund und Boden rund um Adelsberg.

Ein echtes Wagnis, oder doch zumindest jenseits aller Gehörigkeiten und Gepflogenheiten, war unter diesen Umständen auch die Heirat über Konfessions- und Dorfgrenzen hinweg: In der lockeren Interviewrunde anlässlich dieses Zeitungsbeitrags erinnern sich beispielsweise der 69-jährige Erwin Vollmer und die 73-jährige Christa Keller als echte Gresger Urgesteine noch heute auf Anhieb an die Namen des ersten Paares, das dieses Wagnis Mitte der 1950er einging. Die Frau aus dem katholischen Adelsberg, der Gatte aus dem evangelischen Gresgen, suchte das Paar die gemeinsame Zukunft auf dem Adelsberg – „er ist dann katholisch geworden“, weiß Christa Keller.

Spätere Paare – auch diese sind zumindest für die ersten Nachkriegsjahrzehnte in der Zahl überschaubar – legten ihre Ehe teils eher „ökumenisch“ an: Jeder behielt seine Konfession. Heute ist dieses Vorgehen weitgehend üblich, stellt Pfarrer Christian Rave fest, und befindet das durchaus für gut.

Ebenso eindeutig wie die erste evangelisch-katholische Ehe kann Christa Keller auch den ersten katholischen Mitbürger im Dorf benennen, der in den 1950er Jahren der Liebe wegen von jenseits des Schwarzwalds nach Gresgen kam. Einige Katholiken mehr wurden es dann in den 1970er Jahren, als das im Dorf ausgewiesene Neubaugebiet Auswärtige anzog. Einer derjenigen, der damals 1973 als zehnjähriger Bub mit seiner katholisch ausgerichteten Familie nach Gresgen kam, ist der eben frisch gewählte Bürgermeister Peter Palme. Er erinnert sich daran, wie gut der damalige Pfarrer Siegfried Karg ihn aufnahm und als einen der ersten katholischen Jugendlichen in die evangelische Kirche im Dorf integrierte. „Ich hab als erster katholischer Jugendlicher das evangelische Kirchenblatt ausgetragen“, erzählt er schmunzelnd, „und ich durfte beim Krippenspiel an Weihnachten mitmachen.“ Auch kommt es heute immer wieder einmal vor, dass in der evangelischen Kirche ein katholischer Gottesdienst abgehalten wird; vor allem für Abdankungsfeiern für Mitbürger, die – Konfession hin oder her – in ihrem Heimatdorf verabschiedet werden sollen.

Die katholische Fasnacht – in Zell nachgerade zweite Religion – ist ein Aspekt, an dem sich die frühere strikte Abgrenzung ebenso beobachten lässt wie ein Abschmelzen der konfessionellen Fronten. Mitte der 1950er Jahre nahmen die Gresger erstmals mit einem eigenen Wagen am Zeller Fasnachtsumzug teil; 1985 gründete sich die „Altbadische Vogtei“, die gerade im letzten Jahr wieder die heiß umkämpfte Wagenwertung beim Umzug gewann.

Diese selbstverständliche und erfolgreiche Teilnahme an der katholischen Fasnacht in Zell ist ein echter Schritt, wie ein Blick in Geschichte zeigt: Die Reformatoren verboten ihren Anhängern die Teilnahme an der katholischen Fasnacht – ein Umstand, der in den betreffenden Regionen in Existenz und der Intensität der Fasnachtsfeierei auch hunderte Jahre später nachwirkt.

In diesem Sinne erinnert sich Christel Keller an die eigene Kindheit: Zumindest ihre Schwester wurde von der Großmutter noch regelmäßig zum „Schittli schichte“ beordert, wenn drunten im Tal die Fasnacht tobte. In ähnlicher Mission platzierte der frühere Pfarrer Siegfried Karg die Konfirmandenfreizeit in den 1960er und 1970er Jahren konsequent auf die Zeller Fasnachtstage, schildert die Tischrunde unisono.

Einerseits also ein Bereich „erfolgreicher Integration“, ist die Fasnacht zugleich aber auch ideales Feld, um die beinahe lieb gewonnene Konkurrenz insbesondere zwischen Gresgen und Adelsberg zu kultivieren und dem Lieblingsfeind bei der Wagenplatzierung oder beim jeweiligen Kappenabend ordentlich einzuschenken. Nicht zuletzt machen die Gresger bei der Zeller Fasnacht zwar mit, feiern jedoch eine Woche später nochmals ihre eigene Buurefasnacht.

Als Bergdorf auf der Wasserscheide zwischen Kleinem und Großem Wiesental thronend, war Gresgen also politisch wie kirchlich seit Jahrhunderten, und auch vor der Reformation schon, in Richtung Kleines Wiesental orientiert – die entschiedene Abgrenzung in die andere Richtung inklusive. Dass Gresgen heute trotzdem zur Stadt Zell gehört, war vor diesem Hintergrund keine Liebesheirat, sondern eine Vernunftehe, bekennt Erwin Vollmer. Arbeitsplätze, weiterführende Schulen, Verkehrsinfrastruktur – der Anschluss an Zell schien einfach zukunftsträchtiger. Aber auch über vierzig Jahre nach der Eingemeindung bekennen sich zumindest die älteren Alteingesessenen zur anderen Teilseite: Von der Entfernung ist′es kaum weiter als nach Adelsberg und erst recht nach Zell (drei Kilometer sind′es nach Tegernau) – vom Dialekt, vom Glauben, vom Wesen und der Kultur her liegt vieles näher.

Wiederum und weiterhin kommt der Religion eine wichtige Rolle dabei zu, diese Bande zu markieren, auch wenn die politischen Geschicke von Zell aus gelenkt werden: Bis heute gehören die Gresger Protestanten kirchlich zu Tegernau und eben nicht nach Zell, wo es mittlerweile ja auch eine evangelische Kirchengemeinde gibt. Der Status als „Nebenkirche“ der Pfarrei Tegernau existierte schon in den 1550er Jahren, wurde bei der Eingemeindung nach Zell beibehalten – und in einem Diskussionsprozess 1997 nochmals nachdrücklich bestätigt.

Mit 320 Gemeindemitgliedern sind noch immer zwei Drittel der Menschen im Dorf evangelisch, und sie pflegen ein reges Gemeindeleben rund um das Kirchlein St. Nikolaus. Stammt die erste Urkunde über eine Kirche im Dorf aus dem Jahr 1267, so wurde die Kirche in der heutigen Form im Jahr 1764 weitgehend neu errichtet. Zuletzt 1980/81 umfassend renoviert, ist das Kirchlein heute ein echtes Kleinod, das von Gisela Birkenbeul als Kirchendienerin seit bald vierzig Jahren sorgsam gepflegt wird.

Die Kirchengemeinde, zu der Gresgen gehört, hat sich erheblich vergrößert: Im Jahre 2012 hat sich die Gemeinde Tegernau mit den Gemeinden Neuenweg und Wies zur „Evangelischen Kirchengemeinde Oberes Kleines Wiesental“ zusammengetan; als Pfarrer steht seit fünf Jahren Christian Rave an der Spitze. Als Pfarrer „on tour“ versucht er, die fünf Kirchen in seinem weitläufigen Gebiet möglichst gleichmäßig zu bespielen: Einmal im Monat findet ein Gottesdienst in Gresgen statt. Soeben beginnen die Proben fürs Weihnachtsspiel für den Gottesdienst an Heiligabend – traditionell ein Höhepunkt im Dorfleben, zu dem sich die ganze Dorfgemeinschaft (soweit sie hineinpasst) ins Kirchlein drängt – ganz gleich, ob evangelisch oder katholisch.

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