Was bedeuten diese parallel laufenden Veränderungen für Innenstädte?
Wir müssen Innenstädte neu denken. Zum Beispiel: Warum müssen 1A-Lagen immer von Handel oder Gastronomie besetzt werden? Warum kann dort nicht auch eine Seniorenbegegnungsstätte sein?
Weil der Immobilieneigentümer eine Miete verlangt, die eine Seniorenbegegnungsstätte nicht im Ansatz erwirtschaften kann.
Das mag der Fall sein, aber das Problem der Erdgeschossbelegung wird kommen, insbesondere in den Nebenlagen. Lörrach hat als zwei starke, stabilisierende Faktoren die hohe Kaufkraft der Schweizer Einkommen und die Begrenzung des Stadtzentrums. Die Stadt ist immer kompakt geblieben. Andere müssen ihre Zentrumsdimension zurückfahren. Die Arrondierung der Innenstadt in Palm- und Turmstraße ist sinnvoll, aber das sollte es dann gewesen sein. Nochmal: Ich denke, dass wir künftig mehr Non Profit-Nutzungen in Erdgeschosszonen haben werden.
Schrecklich unvisionäre Frage: Wer zahlt’s?
Es ist zunächst die Frage, wie wir Innenstadt in Zukunft verstehen. Ich gehe davon aus, dass der Immobilienmarkt irgendwann akzeptieren wird, dass die einstigen Mieten in Erdgeschosszonen nicht mehr zu erwirtschaften sind. Darüber hinaus sollte vielleicht die Immobiliennutzung anders gedacht werden: Bislang kam das Hochwertige ins Erdgeschoss und das andere in den höheren Geschossen kam dazu. Wenn aber die wirtschaftlichen Ziele in den oberen Etagen besser erreicht werden, ist man im Erdgeschoss flexibler und freier.
Hätten Sie das vor fünf Jahren auch so gesehen?
Es ist kein Fehler, klüger zu werden – Dinge im Wandel der Zeit zu hinterfragen und konzeptionell neu zu denken. Die soeben skizzierte Haltung vertrete ich bereits seit einigen Jahren. Und was ich schon seit langem betone: Immobilieneigentümer werden akzeptieren müssen, dass sie mit dem Erdgeschoss ihre Rente nicht mehr werden finanzieren können.
Aber warum soll ein wirtschaftlich denkender Immobilieneigentümer Interesse daran haben, beispielsweise Non Profit-Einrichtungen in die Erdgeschosslage des Stadtzentrums zu holen?
Weil die Fluktuation bei der klassischen Vermietung immer größer wird. Und was „verlässliche Mieter“ angeht, so wird dieser Kreis allmählich etwas, sagen wir: schillernd. Als Immobilieneigentümer wäre für mich die Überlegung: Lieber eine verlässliche Vermietung, bei der ich nicht alle drei Jahre umbauen muss. Dass die Stadt im Wandel ist, sieht man übrigens auch an den punktuellen Leerständen, die wir in Lörrach über viele Jahre hinweg praktisch nie hatten. Ich kann Ihnen übrigens ein wichtiges Thema nennen, das ich tatsächlich heute etwas anders sehe als noch vor einigen Jahren.
Bitte.
Früher war ich der Auffassung: Plätze sind steinern. Die schönsten Plätze der Welt haben keine Bäume, oder nur wenige. Das wird sich ändern: Die Attraktivität von Innenstädten wird künftig im Sommer auch davon abhängen, wie lange es die Leute dort klimatisch aushalten. Unsere Innenstädte müssen klimaresilient werden.
Wo steht die Lörracher Innenstadt angesichts dieser Herausforderungen derzeit?
Lörrach hat in den vergangenen Jahrzehnten sicher vieles richtig gemacht, aber nun müssen wir für die Klimaanpassung wesentlich mehr tun.
Mit Blick auf den ökonomischen Zustand ist die Abhängigkeit vom Zufluss Schweizer Gehälter immer noch groß. Wenn dieser Zufluss kippen sollte, werden die Konsequenzen massiv sein. Über die Förderung von Wohnen in der Innenstadt sollte intensiver nachgedacht werden. Dringend nachgedacht werden muss dagegen über Interventionen der Stadt bei der Nutzung von Immobilien. Sonst wird es mit den Erdgeschosslagen schwierig werden.
Die Kommune sollte etwa durch Anmietungen andere, neue Angebote schaffen. Ich weiß: Das ist letztlich eine Frage der Verteilung finanzieller Mittel, umsonst ist das jedenfalls nicht zu haben.
Und abschließend: die Fläche auf dem heutigen alten Klinik-Areal. Aus meiner Sicht hat ein Rathaus dort nichts zu suchen. Aber neben dem ehemaligen KBC-Areal bildet dieses Gelände eine wichtige Entwicklungsfläche, die für Lörrach neue Chancen bietet.
Sicher ist: Der Verzicht von Investitionen in bestehende oder künftige Entwicklungspotenziale wird am Ende Stadt und Gesellschaft teurer zu stehen kommen als die vermeintlich eingesparten Mittel, die für eine Entwicklung notwendig sind. Die teuerste Form der Stadtentwicklung ist die, die die Stadt nicht selbst beeinflusst.
Zur Person
Donato Acocella
Mitgliedschaften (Auswahl): - Landesgruppe Baden-Württemberg der Deutschen Akademie für Städtebau und Landeskunde- Vorstandsmitglied im Verein der Dozierenden an der OST – Standort Rapperswil - Außerordentliches Mitglied im Bund deutscher Architekten
Lehre/Fortbildung (Auswahl): - Seit Mitte der 1990er Jahre Dozent beim Deutschen Institut für Urbanistik (DIFU)- 2009 bis 2016: Lehrbeauftrager an der Hochschule für Technik Stuttgart– seit 1. Februar 2020 Professur für Raumentwicklung an der Ostschweizer Fachhochschule in Rapperswil