^ Zukunft der Innenstädte: Acocella: „Wir müssen Innenstadt neu denken“ - Lörrach - Verlagshaus Jaumann

Zukunft der Innenstädte Acocella: „Wir müssen Innenstadt neu denken“

Bernhard Konrad
Donato Acocella: „Der Verzicht von Investitionen in bestehende oder künftige Entwicklungspotenziale wird Stadt und Gesellschaft teurer zu stehen kommen als die vermeintlich eingesparten Mittel, die für eine Entwicklung notwendig sind.“ Foto: Konrad

Donato Acocella hat mit seinem bundesweit tätigen Büro für Stadt- und Regionalentwicklung das Lörracher Märkte- und Zentrenkonzept entwickelt und damit maßgeblich zum Erfolg der Innenstadt beigetragen. Im Gespräch mit Bernhard Konrad äußert er sich zu den Perspektiven des Einzelhandels und der Innenstädte. Mit Aussagen, die manche Wirtschaftsförderer überraschen könnten.

Herr Acocella, die Innenstädte stehen unter Druck. Corona-Pandemie, Online-Konkurrenz, Inflation, Klimawandel, politische Unsicherheiten – und jetzt ist auch noch Galeria, ehemals Karstadt, insolvent. Alle hoffen, dass das Warenhaus in Lörrach bleibt, aber haben solche Ankermieter heute noch die gleiche Bedeutung wie in früheren Zeiten?

Innenstädte werden künftig mehr noch als bisher in ihrer Gesamtheit überzeugen und der Anker sein müssen. Das heißt auch: Die Bedeutung großer Player wird tendenziell abnehmen, aber es ist gut, wenn sie noch da sind. Stadtzentren, wie wir sie heute kennen, sind nur rund 50 Jahre alt, die Fußgängerzonen etablierten sich allmählich seit den späten 60er Jahren. Seither ist eine gewaltige Ökonomisierung der Innenstädte zu verzeichnen, eine Folge ist die regelrechte Explosion der Immobilienpreise. Zuvor war die europäische Innenstadt lange geprägt von Handwerk, Wohnen, Politik und Kirche. Die gegenwärtige Innenstadtstruktur ist nicht gottgegeben und unveränderlich, obgleich noch immer die Meinung vorherrscht, wir müssten sie von heute genauso in die Zukunft transformieren.

Als Entwickler des Lörracher Märkte- und Zentrenkonzepts haben Sie stets betont: Der Handel hat die Leitfunktion der Innenstadt.

Stimmt. Weil auch ich geprägt bin vom Bild dieser Innenstadt. Ich sehe deren Qualitäten und bin davon überzeugt, dass der Einzelhandel eine prägende Funktion behalten wird. Gleichwohl müssen wir uns über den Handel hinaus Gedanken über die Stadtzentren der Zukunft machen. Die Pandemie war ein immenser Digitalisierungsbeschleuniger – auch ich habe mit dieser Geschwindigkeit nicht gerechnet. Corona hat die technische Entwicklung regelrecht in die Zukunft katapultiert. Nicht nur im Handel, aber auch dort. Selbst stationär werden mehr und mehr hybride Einkaufsformen angeboten, sodass etwa weniger Ware im Geschäft ausliegt und gleichzeitig digital auf ein breites Sortiment zugegriffen werden kann.

In diesem Zusammenhang haben Sie die Bedeutung von Beratungsqualität und menschlicher Begegnung in der Innenstadt gern als wichtigen Faktor funktionierender Zentren hervorgehoben.

Das wird auch weiter wichtig bleiben. Aber der Online-Anteil im Bekleidungshandel ist schon heute auf über 35 Prozent gestiegen. Und dieser war immer das wichtigste Sortiment der Innenstädte. Das bringt zwangsläufig Veränderungen mit sich. Neuerdings kommt noch KI hinzu: Wie sich diese auf das Einkaufsverhalten auswirken wird, kann heute noch nicht seriös vorausgesagt werden.

Wie hat sich der Online-Handel insgesamt durch die Pandemie entwickelt?

Während Corona hatten wir Spitzen im Online-Handel – die sind mittlerweile wieder zurückgegangen. Wenn der Online-Handel insgesamt rund 20 Prozent ausmacht, werden immer noch 80 Prozent des Geschäfts stationär gemacht. Aber: Onlineaffine Sortimente sind noch stärker geworden. Wie sich das entwickelt, wird sich zeigen.
Waren zurückschicken und schreddern ist jedenfalls mittlerweile verboten, ob die Rücksendung kostenlos bleibt, wird man ebenfalls noch sehen müssen, gleiches gilt für die Entwicklung der Akzeptanz einer steigenden Anzahl von Lieferfahrzeugen in Wohngebieten. Das sind begrenzende Faktoren.

Was bedeuten diese parallel laufenden Veränderungen für Innenstädte?

Wir müssen Innenstädte neu denken. Zum Beispiel: Warum müssen 1A-Lagen immer von Handel oder Gastronomie besetzt werden? Warum kann dort nicht auch eine Seniorenbegegnungsstätte sein?

Weil der Immobilieneigentümer eine Miete verlangt, die eine Seniorenbegegnungsstätte nicht im Ansatz erwirtschaften kann.

Das mag der Fall sein, aber das Problem der Erdgeschossbelegung wird kommen, insbesondere in den Nebenlagen. Lörrach hat als zwei starke, stabilisierende Faktoren die hohe Kaufkraft der Schweizer Einkommen und die Begrenzung des Stadtzentrums. Die Stadt ist immer kompakt geblieben. Andere müssen ihre Zentrumsdimension zurückfahren. Die Arrondierung der Innenstadt in Palm- und Turmstraße ist sinnvoll, aber das sollte es dann gewesen sein. Nochmal: Ich denke, dass wir künftig mehr Non Profit-Nutzungen in Erdgeschosszonen haben werden.

Schrecklich unvisionäre Frage: Wer zahlt’s?

Es ist zunächst die Frage, wie wir Innenstadt in Zukunft verstehen. Ich gehe davon aus, dass der Immobilienmarkt irgendwann akzeptieren wird, dass die einstigen Mieten in Erdgeschosszonen nicht mehr zu erwirtschaften sind. Darüber hinaus sollte vielleicht die Immobiliennutzung anders gedacht werden: Bislang kam das Hochwertige ins Erdgeschoss und das andere in den höheren Geschossen kam dazu. Wenn aber die wirtschaftlichen Ziele in den oberen Etagen besser erreicht werden, ist man im Erdgeschoss flexibler und freier.

Hätten Sie das vor fünf Jahren auch so gesehen?

Es ist kein Fehler, klüger zu werden – Dinge im Wandel der Zeit zu hinterfragen und konzeptionell neu zu denken. Die soeben skizzierte Haltung vertrete ich bereits seit einigen Jahren. Und was ich schon seit langem betone: Immobilieneigentümer werden akzeptieren müssen, dass sie mit dem Erdgeschoss ihre Rente nicht mehr werden finanzieren können.

Aber warum soll ein wirtschaftlich denkender Immobilieneigentümer Interesse daran haben, beispielsweise Non Profit-Einrichtungen in die Erdgeschosslage des Stadtzentrums zu holen?

Weil die Fluktuation bei der klassischen Vermietung immer größer wird. Und was „verlässliche Mieter“ angeht, so wird dieser Kreis allmählich etwas, sagen wir: schillernd. Als Immobilieneigentümer wäre für mich die Überlegung: Lieber eine verlässliche Vermietung, bei der ich nicht alle drei Jahre umbauen muss. Dass die Stadt im Wandel ist, sieht man übrigens auch an den punktuellen Leerständen, die wir in Lörrach über viele Jahre hinweg praktisch nie hatten. Ich kann Ihnen übrigens ein wichtiges Thema nennen, das ich tatsächlich heute etwas anders sehe als noch vor einigen Jahren.

Bitte.

Früher war ich der Auffassung: Plätze sind steinern. Die schönsten Plätze der Welt haben keine Bäume, oder nur wenige. Das wird sich ändern: Die Attraktivität von Innenstädten wird künftig im Sommer auch davon abhängen, wie lange es die Leute dort klimatisch aushalten. Unsere Innenstädte müssen klimaresilient werden.

Wo steht die Lörracher Innenstadt angesichts dieser Herausforderungen derzeit?

Lörrach hat in den vergangenen Jahrzehnten sicher vieles richtig gemacht, aber nun müssen wir für die Klimaanpassung wesentlich mehr tun.

Mit Blick auf den ökonomischen Zustand ist die Abhängigkeit vom Zufluss Schweizer Gehälter immer noch groß. Wenn dieser Zufluss kippen sollte, werden die Konsequenzen massiv sein. Über die Förderung von Wohnen in der Innenstadt sollte intensiver nachgedacht werden. Dringend nachgedacht werden muss dagegen über Interventionen der Stadt bei der Nutzung von Immobilien. Sonst wird es mit den Erdgeschosslagen schwierig werden.

Die Kommune sollte etwa durch Anmietungen andere, neue Angebote schaffen. Ich weiß: Das ist letztlich eine Frage der Verteilung finanzieller Mittel, umsonst ist das jedenfalls nicht zu haben.

Und abschließend: die Fläche auf dem heutigen alten Klinik-Areal. Aus meiner Sicht hat ein Rathaus dort nichts zu suchen. Aber neben dem ehemaligen KBC-Areal bildet dieses Gelände eine wichtige Entwicklungsfläche, die für Lörrach neue Chancen bietet.

Sicher ist: Der Verzicht von Investitionen in bestehende oder künftige Entwicklungspotenziale wird am Ende Stadt und Gesellschaft teurer zu stehen kommen als die vermeintlich eingesparten Mittel, die für eine Entwicklung notwendig sind. Die teuerste Form der Stadtentwicklung ist die, die die Stadt nicht selbst beeinflusst.

Zur Person

Donato Acocella
 

Mitgliedschaften (Auswahl): - Landesgruppe Baden-Württemberg der Deutschen Akademie für Städtebau und Landeskunde- Vorstandsmitglied im Verein der Dozierenden an der OST – Standort Rapperswil - Außerordentliches Mitglied im Bund deutscher Architekten

Lehre/Fortbildung (Auswahl): - Seit Mitte der 1990er Jahre Dozent beim Deutschen Institut für Urbanistik (DIFU)- 2009 bis 2016: Lehrbeauftrager an der Hochschule für Technik Stuttgart– seit 1. Februar 2020 Professur für Raumentwicklung an der Ostschweizer Fachhochschule in Rapperswil

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