"Demokratien haben stets auch die Neigung, sich gegen sich selbst zu wenden", meint Voßkuhle. Aufseiten der Bürgerinnen und Bürger gebe es immer ein gewisses Misstrauen, ob die Politiker ihre Wahlversprechen einhielten und sich nicht von egoistischen Motiven leiten ließen. Und umgekehrt seien die Politiker immer der Versuchung ausgesetzt, sich nicht mehr an die Spielregeln zu halten, wenn sie erst einmal gewählt seien. "Deshalb wird über die Ausgestaltung der Demokratie immer gerungen. Das kann gar nicht anders sein. Ich warne auch davor zu glauben, dass es einmal so etwas wie ein Goldenes Zeitalter der Demokratie gegeben hat."
Zeitzeugen: Demokratie heute von Gleichgültigkeit bedroht
Heute leben nur noch wenige Menschen, die sich an die Gründung der Bundesrepublik vor 75 Jahren erinnern können - und damit auch noch an den Krieg und den Holocaust. Voßkuhles Vater, verstorben 2010, war so jemand - er war im Zweiten Weltkrieg Offizier gewesen. "Wieviele Nächte sind wir zusammengesessen und haben über den Nationalsozialismus gesprochen?", erinnert sich der heute 60 Jahre alte Sohn. "Das fällt mittlerweile weg." Und damit verschwinde auch ein gewisses Maß an Sensibilität dafür, dass es nicht selbstverständlich ist, in einer Demokratie zu leben. Ähnlich sieht es der 91 Jahre alte Gerhart Baum, der durchaus noch Erinnerungen an den Krieg hat. "In der Tat geht Sensibilität verloren, wenn sie nicht immer wieder aktiviert wird", sagt er der dpa. Die Demokratie werde heute nicht nur von Verfassungsfeinden bedroht, sondern vor allem auch von Gleichgültigkeit.
Voßkuhle erzählt von einer Untersuchung, die er neulich gelesen hat: "Der amerikanische Politikwissenschaftler Adam Przeworski hat festgestellt, dass zwischen 1788 und 2008 die Macht 554 Mal durch Wahlen und 577 Mal durch einen Umsturz in andere Hände überging und dass 68 Länder, darunter Russland und China, noch nie einen Regierungswechsel zwischen Parteien infolge einer Wahl erlebt haben." In Westdeutschland gibt es die Demokratie jetzt seit 75 Jahren, in Ostdeutschland seit 34. Eigentlich sind das noch keine langen Zeiträume - und doch scheint sich bei vielen Wählern eine gewisse Unbekümmertheit breitzumachen.
"Wir sind jetzt in der bedrückenden Situation, dass wir in einigen Bundesländern erwarten müssen, dass die AfD stärkste Partei im Parlament wird - eine Partei mit einem problematischen Verständnis von Demokratie", sagt Voßkuhle. "Das wäre eine Zäsur. Das würde das politische System verändern. Insofern sind wir gerade in einem Moment, in dem die Situation kippen könnte." Das Jahr des Grundgesetz-Jubiläums dürfte ein entscheidendes werden in der Geschichte der bundesdeutschen Demokratie.