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Lörrach „Es tut immer noch weh“

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Es gibt viele Formen sexueller Belästigung. Für Betroffene ist jede ein extrem belastendes Erlebnis. Foto: Archiv

Sonderthema sexuelle Gewalt - Der Fall: Junges Mädchen wird beim Schüleraustausch sexuell belästigt. 

Lörrach - Subtil oder offensiv: Sexueller Missbrauch hat viele Gesichter. Angesichts der aktuellen MeToo-Debatte rückt dieses Thema zunehmend in den Fokus. Aufgrund der konkreten Belästigung einer jungen Lörracherin gingen wir dem Fall nach und beleuchten ihn aus mehreren Perspektiven.

Sie ist 15, fröhlich, interessiert. Und so fuhr die Gymnasiastin Marie* (Name von der Redaktion geändert) mit großer Vorfreude zu ihrer Austauschfamilie nach Frankreich. Nette Atmosphäre, schöne Begegnungen. Ganz entspannt begleitete die Schülerin ihre Gasteltern zu einem Dorffest mit Abendessen an einer langen Tafel – typisch französisch eben.

Dieses gesellige Menü wurde für Marie jedoch zu einem einschneidenden Erlebnis. Hier wurde sie Opfer eines penetranten sexuellen Übergriffs.

Noch heute – über ein Jahr später – ist ihr die Szene unvergesslich ins Gedächtnis gebrannt. „Er war zwischen 25 und 35 Jahre, also deutlich älter als ich“, berichtet sie und bemüht sich um einen konzentrierten Ton. Es gab ein bisschen Small Talk, wie das eben so ist auf einem Fest. Plötzlich spürte Marie, wie der Mann sie – unter dem Tisch versteckt – mit den Füßen bedrängte, diese zwischen ihre Beine zwängte, während er völlig harmlos wirkend weiter plauderte. Marie erstarrte. Was sollte sie tun? Ihn anschreien? Einen Skandal auslösen? Ihre Gastfamilie irritieren?

Die Umgebung bemerkte nichts von ihrer Notsituation

Überfordert mit der Situation flüchtete sie auf die Toilette. „Ich bin irgendwann wieder zurückgegangen und hoffte, dass er aufhört“, erzählt sie. Doch der Unbekannte machte weiter, wurde immer aufdringlicher. „Ich habe mich geschämt, fühlte mich total unsicher und hilflos. Ich war 15!“, sagt sie rückblickend verzweifelt. Offensichtlich bemerkte ihre Umgebung nichts von ihrer Notsituation. So ging das mehrere Stunden, bis die Gastfamilie dann doch realisierte, dass es Marie nicht gut geht.

Marie vertraute sich erst später, zurück in Lörrach, ihrer Mutter und auch Freunden an. Fast alle ihre Freunde hätten sehr verständnisvoll reagiert. Auch ihre Vertrauenslehrerin wurde einbezogen. „Das war alles sehr positiv und hilfreich“. Doch nicht alle, denen sie sich anvertraute reagierten so unterstützend. Einige meinten, sie habe es wohl nicht anders gewollt oder wolle sich nur wichtig machen.

„Ich bekam keine Luft mehr"

Marie ging es immer wieder sehr schlecht. Unerwartet. Unvorhersehbar. „Ich habe im Unterricht plötzlich angefangen zu weinen, ich bekam keine Luft mehr, hatte Panik."

Das junge Mädchen versuchte, die Erinnerung an die Geschehnisse in Frankreich zu verarbeiten. „Ich war sauer auf mich selbst. Machte mir Vorwürfe, dass ich nicht energisch genug reagiert hatte. Dabei bin ich doch sonst nicht so schüchtern!“ Und sie sagte sich immer wieder: Komm, stell dich nicht so an. Es gibt Schlimmeres.

 Nach und nach wuchs in Marie die Erkenntnis: Ändern kann ich das Geschehene nicht mehr. Aber ich kann und will mich wehren. Die aufflammende „MeToo“-Debatte bestärkte sie zusätzlich darin, nicht zu schweigen. Bevor sie sich selber mit dem Thema konfrontiert sah, hatte Marie nie wahrgenommen, dass sexuelle Übergriffe so gehäuft vorkommen. „Das Thema war viel zu bizarr, zu weit entfernt von meiner Realität, um mich damit zu befassen, die Wahrscheinlichkeit zu gering“.

 Mit der Unterstützung ihrer Mutter wandte  sie sich an die Polizei. Die Ermittlungen zu dem Vorfall verliefen sehr zäh, aufgrund der Tatsache, dass die Nötigung im Ausland geschehen war.

Marie konnte und wollte jedoch nicht locker lassen. „Dieser Typ wusste, dass ich erst 15 Jahre alt bin. Sicher war ich nicht sein erstes Opfer. Ich will wenigstens etwas tun und verhindern, dass er das auch mit anderen Mädchen macht.“ Sie begann selbst zu recherchieren und bekam über ihre Gastfamilie die Adresse des Mannes heraus.

Marie* wendet sich an die Polizei und hofft auf einen Ermittlungserfolg

Selbst hinfahren? Ihn zur Rede stellen? „Das hätte mich überfordert und außerdem zu nichts geführt.“ So gab sie ihre Erkenntnisse an die Lörracher Polizei weiter, die ihr versichert habe, dass dem Fall nachgegangen werde.

Marie fragt sich nun, ob es an den französischen oder den hiesigen Behörden liegt, dass sie nach über anderthalb Jahren immer noch keine Nachricht über den Stand der Ermittlungen erhalten hat. Sie fühlt sich Monat für Monat vertröstet. „Ich bin nicht rachsüchtig. Aber ich möchte mich nicht so hilflos und nicht ernstgenommen fühlen“, sagt sie verzweifelt, und man spürt, wie sehr das alles an ihr zehrt.

Wichtig ist ihr: „Der Mann soll sehen, dass sein Handeln Konsequenzen hat, dass er so etwas nicht einfach machen kann.“

Für Marie sei es nicht leicht gewesen, zur Polizei zu gehen, sich zu offenbaren. Dass jetzt nichts geschehe, frustriere sie zunehmend, sagt ihre Mutter. Lässt die Gesellschaft so etwas einfach zu? frage sich ihre Tochter. Dabei sehnt sich Marie vor allem nach ihrer Unbeschwertheit zurück. Immer noch wacht sie manchmal nachts auf. Immer noch glaubt sie zuweilen unangenehme Männerblicke auf sich gerichtet. Immer noch tut es weh.

Siehe auch:
Die Analyse: Die Frauenberatungsstelle ist eine von mehreren Hilfsinstitutionen
Die Polizei: Ermittlungen gestalten sich bei sexueller Belästigung oft schwierig

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