Die Umgebung bemerkte nichts von ihrer Notsituation
Überfordert mit der Situation flüchtete sie auf die Toilette. „Ich bin irgendwann wieder zurückgegangen und hoffte, dass er aufhört“, erzählt sie. Doch der Unbekannte machte weiter, wurde immer aufdringlicher. „Ich habe mich geschämt, fühlte mich total unsicher und hilflos. Ich war 15!“, sagt sie rückblickend verzweifelt. Offensichtlich bemerkte ihre Umgebung nichts von ihrer Notsituation. So ging das mehrere Stunden, bis die Gastfamilie dann doch realisierte, dass es Marie nicht gut geht.
Marie vertraute sich erst später, zurück in Lörrach, ihrer Mutter und auch Freunden an. Fast alle ihre Freunde hätten sehr verständnisvoll reagiert. Auch ihre Vertrauenslehrerin wurde einbezogen. „Das war alles sehr positiv und hilfreich“. Doch nicht alle, denen sie sich anvertraute reagierten so unterstützend. Einige meinten, sie habe es wohl nicht anders gewollt oder wolle sich nur wichtig machen.
„Ich bekam keine Luft mehr"
Marie ging es immer wieder sehr schlecht. Unerwartet. Unvorhersehbar. „Ich habe im Unterricht plötzlich angefangen zu weinen, ich bekam keine Luft mehr, hatte Panik."
Das junge Mädchen versuchte, die Erinnerung an die Geschehnisse in Frankreich zu verarbeiten. „Ich war sauer auf mich selbst. Machte mir Vorwürfe, dass ich nicht energisch genug reagiert hatte. Dabei bin ich doch sonst nicht so schüchtern!“ Und sie sagte sich immer wieder: Komm, stell dich nicht so an. Es gibt Schlimmeres.
Nach und nach wuchs in Marie die Erkenntnis: Ändern kann ich das Geschehene nicht mehr. Aber ich kann und will mich wehren. Die aufflammende „MeToo“-Debatte bestärkte sie zusätzlich darin, nicht zu schweigen. Bevor sie sich selber mit dem Thema konfrontiert sah, hatte Marie nie wahrgenommen, dass sexuelle Übergriffe so gehäuft vorkommen. „Das Thema war viel zu bizarr, zu weit entfernt von meiner Realität, um mich damit zu befassen, die Wahrscheinlichkeit zu gering“.
Mit der Unterstützung ihrer Mutter wandte sie sich an die Polizei. Die Ermittlungen zu dem Vorfall verliefen sehr zäh, aufgrund der Tatsache, dass die Nötigung im Ausland geschehen war.
Marie konnte und wollte jedoch nicht locker lassen. „Dieser Typ wusste, dass ich erst 15 Jahre alt bin. Sicher war ich nicht sein erstes Opfer. Ich will wenigstens etwas tun und verhindern, dass er das auch mit anderen Mädchen macht.“ Sie begann selbst zu recherchieren und bekam über ihre Gastfamilie die Adresse des Mannes heraus.