Lörrach/Israel Überwältigt, sprachlos und absurd: Der Aufenthalt verändert

Jörg Müller
Der Gedenkort Nova Festival Foto: Jörg Müller

Gastbeitrag, 6. und letzter Teil: Israel nach dem 07. Oktober 2023 – Gaza: „Wir konnten die Arbeit der Holocaust-Leugner in Echtzeit mitverfolgen, als nur wenige Tage nach den Massakern am 7. Oktober 2023 online bereits die Echtheit der Geschehnisse angezweifelt wurde.

Nach dem Besuch der Orte bin ich selbst Zeuge.

Obwohl in unmittelbarer Nähe des Gazastreifens alles militärisches Sperrgebiet ist, komme ich unbehelligt am Wachposten vorbei in das Kibbuz Nirim. Der Hintereingang eines Hauses ist offen. Ich stehe in der verbrannten Küche. Am Boden sehe ich einen kleinen Spielzeugbären. Automatisch suche ich nach dem Safe-Room. Die Tür, beklebt mit Hochzeitsbildern, ist halb geöffnet. Drinnen ein Kinderbettchen.

Weihenstephan im Kibbuz Nirim Foto: Jörg Müller

Gegenüber auf der Veranda des Nachbarhauses ein paar Stühle um ein kleines Tischchen. Darauf eine Flasche Wasser, Spülmittel und eine halbvolle Bierflasche der deutschen Marke Weihenstephan. Die Vorstellung, dass hier jemand saß, nur sein halbes Bier leer trinken konnte und nie wieder zurückkehrte, wirkt absurd.

Allen Soldaten, die mir bei Kisufim begegnen, sind die Strapazen ins Gesicht geschrieben. Sie kommen direkt aus dem Gazastreifen und sind auf dem Weg nach Hause. Manche noch auf ihren Panzern, andere liegen im Gras und ruhen sich aus. Nur vereinzelt mache ich Fotos, und entgegen meiner Gepflogenheit suche ich nicht das Gespräch mit den Soldaten. Man würde sofort merken, dass ich hier nicht hingehöre.

Die Bilder der Opfer

Zwischen Re’im und Be’eri liegt das Nova-Festivalgelände. Feiernde Jugendliche wurden hier misshandelt, getötet und als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Heute eine wunderschöne, grüne Landschaft auf der die ersten Mohnblumen blühen. Auf dem Festplatz stecken in der Erde hunderte Stangen mit den Bildern der Opfer. Es herrscht eine fast andächtige Stimmung. Wenn man spricht, dann nur mit gedämpfter Stimme. Es überwältigt mich, die vielen, sehr jungen Gesichter auf den Bildern zu sehen.

Ein Spielzeugbär im Kibbuz Nirim Foto: Jörg Müller

Im nahe liegenden Wäldchen sind verstreut Mahnmale, Blumen, Bilder oder Banner. Ich lege einen Stein auf das Grabmal eines jungen Pärchens. An einem Baum hängt noch das Seil einer Hängematte. Wenige Meter weiter eine Bank, Kochutensilien und eine Gasflasche mit dem Aufkleber „No time for drama“.

Einfach sprachlos

Auf dem Rückweg zum Auto kommt ein Mann direkt auf mich zu. Ich kenne ihn nicht und will ihm ausweichen, aber er reicht mir die Hand und spricht mich mit ernstem Gesichtsausdruck an. „Ich habe dich vor zwei Wochen in Tel Aviv gesehen, als du öffentlich gesprochen hast. Was du gesagt hast, bedeutet mir sehr viel und ich möchte dir dafür danken.“ Ich bin sprachlos, nicke ihm zu und gehe einfach wortlos weiter. In diesem Moment, an diesem Ort ist es einfach zu viel für mich.

Selfie vor Gaza-Stadt bei Nahal Oz Foto: Jörg Müller

Das Kibbuz Nahal Oz liegt direkt gegenüber von Gaza-Stadt. Selbstverständlich kein Zutritt, aber statt umzukehren, fahre ich rechts an zwei Verbotsschildern vorbei die schlammige Straße bis zum Ende. Ich gehe noch einige Meter zu Fuß und steige auf einen Erdwall. 400 Meter vor mir die Grenzzäune, dahinter liegt Gaza. Oder doch nicht? Zu sehen ist nur ein einziger Schutthaufen. Dieser Anblick ist schwer zu ertragen. Was erleiden die Menschen auf der anderen Seite? Als ich umkehren möchte, wieder eine massive Detonation und eine riesige Rauchwolke etwas südlich von meinem Standort.

Der Raketenalarm

Ich passiere gerade das Ortsschild Sderot, als die App „Red Alert“ einen Raketenalarm auslöst. Ein kurzer Blick auf das Handy, in welcher Region in Israel die Rakete niedergehen soll. Auf der Anzeige steht „Sderot“! Ich befinde mich im dichten Verkehr und weiß, dass für diesen Ort eine Vorwarnzeit von etwa 20 Sekunden gilt. Was soll ich tun? Ich mache es wie alle anderen und fahre einfach weiter.

Die untergehende Sonne sendet versöhnliche Strahlen auf den Gazastreifen.

Hat sich Israel nach dem 7. Oktober 2023 verändert? Was sicher ist: Das Israel nach dem 7. Oktober hat mich verändert!

Dem Land und allen seinen Bewohnern wünsche ich aufrichtig: Shalom – Salam!

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